Hirnforschung gegen Juckreiz

Für kleine Jungs ist es ein harmloser Spaß: Ein wenig Juckpulver dem Streber in der ersten Reihe unbemerkt in den Kragen gestreut, dann die Vorfreude genießen auf das Unvermeidliche. Tatsächlich kennt der ungeliebte Mitschüler schon nach wenigen Momenten nur noch einen Gedanken – kratzen, kratzen, kratzen – während die Spötter sich über den Erfolg ihrer Strafaktion ins Fäustchen lachen.

Bald darauf ist die Geschichte vergessen, allenfalls bei den jährlichen Klassentreffen wird sie wieder hervor gekramt. Denn ebenso wie nach einem Mückenstich oder dem falsch gewaschenen Rollkragenpullover um den Hals verfliegt auch beim Juckpulver das unangenehme Gefühl nach einiger Zeit von selbst. Zur Not lässt sich die Leidenszeit verkürzen mit Hilfe von Umschlägen oder einer kalten Dusche, mit milden Cremes oder alten Hausmitteln wie Eukalyptus, Kampfer, Menthol, Talkum, Zinkoxid oder Glycerin.

Für ungezählte Menschen aber ist der Juckreiz alles andere als ein Spaß, berichtet Professor Clemens Forster vom Institut für Physiologie und Pathophysiologie der Universität Erlangen-Nürnberg. Das lästige Gefühl will bei ihnen einfach nicht verschwinden oder es kehrt ständig wieder. Die „kleine Schwester des Schmerzes“, so Forster, sei der häufigste Grund für Menschen, einen Hautarzt aufsuchen – und das nicht nur wegen Allergien und Ausschlägen aller Art, wegen Schuppenflechte, Neurodermitis oder Fußpilz.

Einer norwegischen Umfrage zufolge leiden in der Gesamtbevölkerung etwa 7,5 Prozent der Männer und 9,2 Prozent der Frauen unter Juckreiz. Manche Gruppen sind aus bislang unbekannten Gründen besonders häufig betroffen: Laut Statistik sind dies 70 und 90 Prozent aller Schwangeren, sowie zahlreiche Schmerzpatienten, die mit Morphin und ähnlichen Substanzen behandelt werden müssen. Auch ein Großteil aller Leber- und Nierenkranken wird von ständigem Juckreiz geplagt, bei Dialysepatienten sind es fast die Hälfte. Die Vermutung liegt nahe, dass bestimmte Abfallprodukte des normalen Stoffwechsels dafür verantwortlich sein könnten, die bei Menschen mit geschädigter Niere oder Leber nicht mehr richtig ausgeschieden werden. Die Suche nach diesen Substanzen blieb bisher jedoch erfolglos.

Beim Juckreiz spielt offensichtlich auch die Psyche eine große Rolle, wie jeder weiß, der sich schon einmal von kratzenden Begleitern „anstecken“ lies. Menschen mit belastenden Lebensereignissen waren in der erwähnten norwegischen Umfrage mit 12,2 Prozent überdurchschnittlich häufig betroffen, Personen mit vielen Freunden erkrankten dagegen seltener als der Durchschnitt der Bevölkerung. Und eine Studie der Universität Münster fand ebenfalls Hinweise auf starke Wechselwirkungen zwischen dem Gemütszustand und krankhaftem Juckreiz (Pruritus): Etwa 70 Prozent aller Pruritus-Patienten in dieser Untersuchung litten zusätzlich an psychosomatischen oder psychiatrischen Erkrankungen.

„Juckforscher“ haben also allen Grund, sich für den Sitz der Psyche zu interessieren: das menschliche Gehirn. Und als kürzlich in Washington 31000 Hirnforscher zur Jahrestagung der Society for Neuroscience zusammen kamen, standen die Spezialisten für den Juckreiz mit ihren neuen Erkenntnissen sogar kurzfristig im Rampenlicht. Tatsächlich wird ein Juckreiz zwar von speziellen Rezeptoren in der Haut registriert. Gefiltert, bewertet und bewusst gemacht wird das Gefühl „es juckt“ aber erst, nachdem die Reize entlang von Nervenbahnen und über mehrere Umschaltstationen in den höheren Regionen unseres Denkorgans angekommen sind.

Schon am Anfang dieser Reizbahnen gibt es klare Unterschiede zwischen verschiedenen Arten des Juckreizes, wie Forster und dessen Kollegin Frauke Kosteletzky deutlich machten. Beim vergleichsweise harmlosen „Typ Mückenstich“ spielt der Botenstoff Histamin eine entscheidende Rolle, der an der Abwehr körperfremder Stoffe beteiligt ist. Wie auch beim Kontakt mit Brennnesseln bilden sich nach einigen Minuten weiße Quaddeln die von einem roten, runden Fleck umgeben sind. Arzneien aus der Gruppe der Antihistaminika können diese Art von Juckreiz zwar mildern, indem sie den Botenstoff daran hindern, seine Wirkung an speziellen Empfangsmolekülen – den Histaminrezeptoren – zu entfalten. Weil diese Präparate als Nebenwirkung Müdigkeit verursachen, werden sie aber von „Juckexperten“ nicht generell empfohlen.

Unabhängig vom Histamin funktioniert eine zweite Art von Juckreiz, die Forsters freiwillige Versuchspersonen zu spüren bekamen. Ihnen tupfte der Wissenschaftler mit einem Wattestäbchen einen Extrakt aus Haaren der Juckbohne auf die Haut – eine in den Tropen weit verbreitete Pflanze und Inhaltsstoff der meisten Scherzartikel, die hierzulande als „Juckpulver“ verkauft werden. Diesen Reiz konnten die Freiwilligen eindeutig vom Histamin-vermittelten, Mückenstich-artigen Juckreiz unterscheiden und beschrieben ihn als eher stechend, scharf und spitz.

Wissenschaftlich-objektiv und zudem noch mit bunten Bildern ließen sich die beiden Formen von Juckreiz auch mit Hilfe der Laser-Doppler-Blutflussmessung darstellen. Die damit aufgenommen Bilder zeigen in roten und gelben Farben den durch Histamin drastisch vermehrten Blutfuss in der Haut. Ein kühles Blau belegt dagegen, dass der Juckbohnen-Extrakt seine nervige Wirkung auch ohne Veränderung des Blutflusses entfaltet. Unterschiede gab es nicht zuletzt auch in der Wirkung des Kratzens auf die zwei verschiedenen Juckreiz-Arten: „Das Bedürfnis, sich zu kratzen, entstand schneller unter Histamin und die folgende Erleichterung hielt länger an als beim Juckbohnen-Extrakt“, fand Forster heraus.

„Dies legt nahe, dass ein Juckreiz auf mindestens zwei verschiedenen Wegen von den peripheren Nervenbahnen zum Gehirn geleitet werden kann“, sagt Forster und bestätigt damit auch die Arbeiten von Professor Matthias Ringkamp, der früher wie Forster an der Universität Erlangen-Nürnberg geforscht hat und heute an Johns Hopkins University School of Medicine in Baltimore arbeitet. Ringkamp fand heraus, das ein bestimmter Fasertyp nicht auf Histamin reagiert, sehr wohl aber auf die Juckbohne, und das dieser Fasertyp sich durch eine Vorbehandlung mit Capsaicin blockieren lässt – jener Substanz, die Chili-Schoten ihre mitunter schmerzhafte Würze verlieht.

Beide Forscher hoffen nun, dass ihre Entdeckungen dazu beitragen, eines Tages neue Behandlungen zu finden für jene Menschen, denen mit Hausmitteln und Histamin-Blockern nicht geholfen werden kann. Wie solch eine Behandlung aussehen könnte, verriet auf der Jahrestagung der Hirnforscher Professor Zhou-Feng Chen, Mitarbeiter am Schmerzzentrum der Washington Universität in St. Louis. Chen hatte im Vorjahr bereits als Erster die Entdeckung eines „Juck-Gens“ bekannt gegeben. Dieses Gen bildet den molekularen Bauplan für den „Gastrin freisetzenden Peptid-Rezeptor“ (eng. gastrin-releasing peptide receptor, GRPR), eines von vielen Biomolekülen, die an der Reizleitung im Nervensystem beteiligt sind. Das GRPR-Gen spielt offensichtlich eine Schlüsselrolle bei der Entstehung von Juckreiz bei Schmerzpatienten denen zur Linderung ihrer Qualen Morphin oder ähnliche Substanzen in den Rückenmarkskanal gespritzt werden muss.

Genmanipulierte Mäuse, denen Chen das GRPR-Gen entfernt hatte, erwiesen sich als weniger empfindlich gegen diese Art von Juckreiz – und zwar ohne dass ihr normales Schmerzempfinden oder ihr Temperatursinn durch diesen Eingriff beeinträchtigt worden wäre. „Das widerlegt den Glauben, dass die Reizbahnen für Morphin-induzierten Juckreiz und die schmerzlindernde Wirkung des Morphins identisch wären“, erläuterte Chen. Der Hirnforscher plant indes keine Genmanipulation an Schmerzpatienten, sondern will statt dessen einen Hemmstoff für GRPR entwickeln, der gleichzeitig mit dem Morphin verabreicht würde. Bei gesunden Mäusen hat Chen diese Strategie bereits erfolgreich erprobt. „Das Morphin behielt seine schmerzlindernde Wirkung, und die Tiere spürten keinen Juckreiz mehr“, sagt er. Da das „Juck-Gen“ GRPR des Menschen dem der Maus sehr ähnlich ist, wäre es laut Chen „durchaus möglich, auch Schmerzpatienten auf diese Art zu behandeln – auch wenn dafür noch eine Menge Forschungsarbeit geleistet werden muss.“

Quelle und weitere Informationen zum Juckreiz:

MSimm
Journalist für Medizin & Wissenschaft

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