Ein vielgelobter Eiweißstoff, von dem man sich Erfolge bei der Behandlung von Krebserkrankungen verspricht, darf jetzt auch in Deutschland hergestellt werden. Mit sofortiger Wirkung wurde der BASF die Erlaubnis erteilt, jährlich 500 Gramm Tumor Nekrose Faktor (TNF) zu produzieren, der mit Hilfe von gentechnisch veränderten Bakterien gewonnen wird.
Damit setzte die Stadt Ludwigshafen als zuständige Genehmigungsbehörde den Schlußstrich unter das Verfahren, das bereits im August 1989 begonnen wurde. In zwei Gutachten, erstellt von der Gesellschaft für Biotechnologische Forschung Braunschweig und der Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft, war der Antrag geprüft worden. Dabei standen einerseits Fragen der Sicherheit im Umgang mit gentechnisch veränderten Organismen im Mittelpunkt der Untersuchungen, andererseits wurde auch die Fähigkeit der Mikroben untersucht, in der freien Natur zu überleben und sich auszubreiten.
Auch 634 Bürgereinwendungen gegen das Projekt wurden bearbeitet. Die Genehmigungsbehörden haben dabei „keine konkrete Gefahrdung von Arbeitnehmern, Lebewesen oder des Naturhaushaltes“ erkennen können, so Umweltdezernent Karl-Horst Tischbein. Das Risiko einer Freisetzung von Bakterien sei als „außerordentlich gering“ anzusehen.
Wie Tischbein gestern vor Journalisten bekanntgab, habe die Stadt den Sofortvollzug der Genehmigung verfügt, weil die schnelle Herstellung des neuen Medikamentes auch im öffentlichen Interesse liege. Klagen gegen die Genehmigung, die mehrere Jahre in Anspruch nehmen könnten, haben dadurch keine aufschiebende Wirkung mehr. Die Erlaubnis wurde auf der Grundlage des Bundesimmissionsschutzgesetzes erteilt. Zwar trat am 1. Juli vergangenen Jahres das Gentechnikgesetz in Kraft, doch war für die Abwicklung des Verfahrens das Datum des Antrages ausschlaggebend.
TNF ist ein wichtiger Regulator des menschlichen Immunsystems und findet sich in winzigen Mengen im Blut. Durch die Übertragung der Erbanlagen für TNF auf Bakterien kann die Substanz jetzt in verhältnismäßig großen Mengen hergestellt werden. Die Wirkung von TNF bei verschiedenen Krebserkrankungen wird seit Jahren intensiv erforscht.
Am weitesten fortgeschritten sind dabei die klinischen Untersuchungen zur Behandlung von tumorbedingter Bauchwassersucht, einer äußerst schmerzhaften Begleiterscheinung mancher Krebserkrankungen. Auch beim Nierenzellkarzinom zeigt TNF bereits – in Kombination mit Interferon – erste positive Ergebnisse. Mittlerweile hat die BASF-Tochter Knoll AG beim Bundesgesundheitsamt (BGA) die Zulassung von TNF als Arzneimittel beantragt. Wie ein Sprecher der Firma sagte, rechnet man mit einer Bearbeitungsdauer von ca. 18 Monaten. Nach Prüfung durch das BGA soll in Brüssel ein europäisches „High-Tech-Verfahren“ eingeleitet werden. Dies habe den Vorteil, daß eine auf EG-Ebene ergangene Empfehlung von den nationalen Behörden unverzüglich in Zulassungsbescheide umgesetzt werden müsse.
„Die Biotechnologie hat sich mittlerweile zu einer so bedeutenden Methode der Stoffumwandlung gemausert, daß auch ein Weltunternehmen wie die BASF nicht darauf verzichten kann“, erklärte der Leiter des Zentralen Hauptlaboratoriums, Dr. Werner Küsters. In einem brusthohen Stahlgefäß mit der Nummer R65 könnten genetisch „umprogrammierte“ Colibakterien den Weltjahresbedarf von einem Kilogramm TNF binnen einer Woche herstellen, doch ist die Genehmigung der Stadt Ludwigshafen auf 500 Gramm jährlich begrenzt. Auch diese Menge würde jedoch ausreichen, um ganz Europa zu versorgen. Besorgniserregend sei für ihn dabei allein die Tatsache, daß die Zulassungsunterlagen für den Betrieb dieser Anlage mittlerweile mehr Platz benötigen als der Fermenter selbst, sagte Küsters.
(erschienen in „DIE WELT“, 10. Januar 1991)
Was wurde daraus? Als Anti-Krebsmittel sei TNF eine „gen-iale Totgeburt“, höhnte die TAZ etwa ein halbes Jahr nach Erscheinen meines Artikels. Begründung: „Die 20 von der BASF angeführten, mit TNF behandelten Eierstock-PatientInnen überlebten nämlich nur zwischen sechs und 62 Wochen. Der Bändigung der Bauchwassersucht standen zudem erhebliche Nebenwirkungen gegenüber (Fieber, Schocksyndrome)… Und so wartet das angebliche Krebs-Wundermittel noch immer auf seine Zulassung als Pharmakon.“ Zwar wurde eine von Boehringer Ingelheim hergestellte Variante des TNF unter dem Namen Tasonermin / Beromun im Jahr 1999 als Arzneimittel bei Weichteilsarkomen zugelassen, um Amputationen zu vermeiden oder den Patienten Linderung zu verschaffen, nachdem der Nutzen in 4 Studien mit 260 Patienten gezeigt worden war. Dennoch war TNF als Medikament eine Enttäuschung. Die Geschichte der TNF-Forschung ist damit jedoch nicht am Ende. Die BASF hatte nämlich bereits in den 1980er Jahren auch spezifische Hemmstoffe (Antikörper) gegen TNF zum Patent angemeldet. Diese Substanzen (Humira, Enbrel) lindern heute die Schmerzen von mehr als einer Million Rheumapatienten weltweit. Gut zehn Jahre lang – bis zum Auslaufen der Patente – gehörten sie zu den umsatzstärksten Medikamenten weltweit und brachten ihren Herstellern noch im Jahr 2018 Erlöse von mehr als 25 Milliarden Euro ein. Es hätte die größte Erfolgsgeschichte der deutschen Pharmaindustrie sein können. Dumm nur, dass man sich bei der BASF im Jahr 2001 entschlossen hatte, die komplette Pharmasparte zum Preis von 6,9 Milliarden an die US-Firma Abbott zu verkaufen.
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