Vorbemerkung: Als Journalist habe ich mich daran gewöhnt, dass meine Texte mitunter gekürzt werden, manchmal auch zurecht gebogen. Oder dass man sich durch eine allzu gründliche Recherche die eigene Geschichte kaputt machen kann, weil man heraus findet, dass es nichts wirklich Neues oder Aufregendes zu berichten gibt. Und manchmal hat man einfach nur Pech, wie bei der folgenden, beinahe unverkäuflichen Story, die ich meinen Lesern trotzdem nicht vorenthalten möchte…
Puh, das ist ja gerade noch einmal gut gegangen. Denn fast hätte es den Artikel, den Sie nun vor Augen haben, niemals gegeben. Gescheitert wäre er beinahe an einer Verkettung unglücklicher Ereignisse, an Pleiten, Pech und Pannen, an einer akuten Überforderung des Reporters. Oder waren es gar die berühmten höheren Umstände, für die es bekanntlich keinen Versicherungsschutz gibt?
Das mit Terry Pratchett als Zugpferd hat jedenfalls ganz prima funktioniert, denn sonst wäre nicht nur der geneigte Leser gar nicht erst bis zu dieser Stelle vorgedrungen, sondern auch der launenhafte Auftraggeber hätte mir womöglich niemals eine Zusage erteilt, in seinem Namen nach London fahren zu dürfen, um dort der Eröffnung einer 120 Millionen Euro teuren neuen europäischen Firmenzentrale durch die japanische Pharmafirma Eisai beizuwohnen.
„120 Millionen Euro? Haben die dort vergoldete Dächer?“, klingt es mir noch im Ohr. „Na ja, jedenfalls haben sie genug Kohle, um mich einzuladen“, pariere ich vorausahnend schon mal das Wir-haben-kein-Geld-Argument. „Ja, aber gibt´s denn da auch was Neues für unsere Leser?“ Oha! Hatte ich fast vergessen. Das sind ja die, die keine Pressemitteilungen nachdrucken wollen. Also zitiere ich aus der Einladung: Neue Forschungslabors gibt es in Hatfield bei London zu besichtigen und die erste Produktionsstätte der Japaner auf europäischem Boden, 250 neue Arbeitsplätze würden dort geschaffen und der Botschafter kommt und ein hochrangiger Regierungsvertreter. Dann setze ich noch einen ´drauf: „Sie sagen, ich könnte auch ein Interview mit dem Firmenboss kriegen, mit Herrn Haruo Naito“. Erst als auch diese Ankündigung keine Begeisterungstürme hervor ruft, spiele ich meinen letzten Trumpf aus:
„Da kommt auch dieser Pratchett. Du weist schon, dieser Fantasy-Autor – ja genau, der mit den Scheibenwelt-Romanen.“ Endlich haben wir eine Geschichte. Denn Terry Pratchett ist nicht irgendein Schreiberling, sondern einer der meistgelesenen und beliebtesten Schriftsteller im Vereinigten Königreich. Seit er mit 13 Jahren seine erste Kurzgeschichte in einer Schülerzeitung schrieb, hat der mittlerweile 61-jährige an die 50 Bücher verfasst. Ironisch-skurril, mit unzähligen Fußnoten, Anspielungen und einem absurdem Humor hat der Mann mit dem Zauberhut sich eine riesige weltweite Fangemeinde erobert. Für seine Verdienste um die englische Literatur wurde Pratchett kürzlich sogar zum Ritter geschlagen.
Der eigentliche Grund für diese seltsame Geschichte aber ist, dass seine Ärzte bei „Sir Terry“ angeblich eine seltene Frühform der Alzheimer-Krankheit festgestellt haben. Seitdem macht er sich nicht nur für die Erforschung dieses Leidens stark, er hat auch flugs mal eine Million Dollar gespendet und scheut sich offenbar nicht, mit der bösen Pharmaindustrie gemeinsame Sache zu machen.
Eisai – Sie erinnern sich noch an Eisai? – vertreibt übrigens mit Donepezil (Aricept®) eines der bestverkauften Alzheimer-Medikamente. Zuletzt erzielte man damit einen Jahresumsatz von 2,2 Milliarden Euro, obgleich sowohl der Nutzen als auch die Erstattungsfähigkeit dieser Arznei durch Einrichtungen wie das britische National Institute for Clinical Excellence (NICE) wiederholt in Zweifel gezogen wurden. Pratchett aber hat gesagt, er würde „den Hintern eines toten Maulwurfs fressen“, wenn ihm das helfen würde. Und die Redaktion hat gesagt, dass sie mir ein Interview mit Pratchett abkaufen würde, in dem es um Wirtschaft und Forschung gehen soll, um den „Dunstkreis“ des Pharmasponsorings, um Pratchetts Krankheitshistorie und Romanfiguren wie Gevatter Tod sowie um „eventuelle Konflikte bzgl. eigener Glaubwürdigkeit gegenüber seinen Fans, wenn er mit Big Pharma kooperiert.“
Also rein mit dem Laptop und dem Aufnahmegerät und den Ersatzbatterien in den Koffer, ein Paar ordentliche Schuhe dazu und ab nach London. Vom City-Airport mit der Bahn in den Vorort St. Albans, mit dem Taxi ins Hotel, mit den Presseleuten zum Dinner und am nächsten Morgen per Kleinbus nach Hatfield zu Pressekonferenz. Ich bin gut vorbereitet auf den Firmenchef, Haruo Naito, über den ich nun auch zwei Seiten schreiben soll, wenn ich schon mal da bin. Erst muss ich aber noch den kürzlich zum stellvertretenden Außenminister berufenen Labour-Abgeordneten Ivan Lewis anhören, dessen Regierung wahnsinnig viel getan habe, für die Konjunktur im Allgemeinen und für das Gesundheitswesen im Speziellen. Niemals seien die Beziehungen zwischen den beiden Ländern so gut gewesen wie heute, weiß der japanischer Botschafter für das Vereinigte Königreich, seine Exzellenz Shin Ebihara. Wo ist eigentlich Pratchett? Sollte der nicht auch auf der Pressekonferenz sprechen? Egal jetzt, der kommt bestimmt gleich.
Erst noch Haruo Naito, über den ich inzwischen noch mehr weiß, als er jetzt gleich sagen wird. Denn erstens steht das Meiste auch in der Pressemappe und zweitens habe ich den Mann gegoogelt. Habe herausgefunden, wo er studiert hat, kenne bereits sein „human health care“-Konzept, mit dem er seine Mitarbeiter bis hinauf in die Führungsetage zu mehrtägigen Hospitationen in Kliniken, Pflegeheimen und ähnlichen Einrichtungen verpflichtet, um das Verständnis für die Bedürfnisse der Patienten fördern. Das ist gut, das schreibe ich auf und werde es später im Interview aufgreifen, nehme ich mir vor.
Obacht jetzt, denn Naito bringt die Firmenphilosphie auf den Punkt: „Wir werden neue Werte schaffen, indem wir lernen, die Lebenswelt der Patienten zu verstehen“. So steht es auch auf dem Grundstein für das European Knowledge Center (EKC) – auf englisch natürlich. Dann noch ein Kompliment an die britische Regierung: Ausschlaggebend für die Standortwahl sei nicht nur ein starkes akademisches Umfeld gewesen, sondern auch mehrere Gespräche auf höchster Ebene, wo man als Partner für ein besseres nationales Gesundheitssystem behandelt worden sei. Auch das notiere ich mir, als Aufhänger für Fragen, die ich Herrn Naito im Interview stellen werde: „War denn Frau Merkel nicht interessiert? Was hätte sie tun müssen, um Eisai nach München zu holen oder nach Berlin?“ Oder ganz frech: „Waren denn die deutsch-japanischen Beziehungen nicht schon immer besser als die japanisch-britischen?“
Natürlich wird dies nicht meine erste Frage sein. Immer schön taktvoll und höflich, denn ich mag die Japaner und ihre feinfühligen Umgangsformen. Zum Beispiel ihr respektvoller Umgang mit den Alten. Tausende von Pflegeheimen haben sie gebaut, während die Engländer ihren Senioren nicht einmal mehr die Dialyse zahlen wollen – geschweige denn die Alzheimer-Arzneien. Das habe ich alles recherchiert, kenne die Umsatzzahlen von Eisai und weiß auch, dass Naito das Unternehmen bereits in der dritten Generation leitet. Gibt´s da einen Zusammenhang mit der Alzheimer-Forschung bei Eisai? Überraschen wird ihn sicher meine erste Frage, ob denn der Firmenname von dem Mönch Eisai herrührt, der – wie mein Lexikon mir verriet – in der Kamakura-Periode das Teetrinken nach Japan gebracht hat?
Und wo bleibt eigentlich Pratchett? Sie erinnern sich noch an Pratchett? „13:00 Interview with Sir Terry Pratchett, 13:55 Media Tour of Product Creation 14:25 Interview with Mr. Naito“, steht auf dem persönlichen Zeitplan, den man mir in die Hand drückt. Um 15:15 wird man mich zum Flughafen fahren und am Abend bin ich wieder daheim. Alles wird gut. Vor dem Interview kommt aber erst noch die Eröffnungszeremonie. Sintflutartiger Regen hat eingesetzt und Herr Naito scherzt, sein Name bedeute übersetzt „Schön-Wetter-Mann“. Ansonsten ist seine Rede in dem Festzelt mit den 1200 geladenen Gästen nicht so gut zu verstehen, denn wir Journalisten sitzen zwar auf reservierten Plätzen, die aber sind Luftlinie hundert Meter von der Bühne entfernt. Nicht ganz einfach, von hier aus die bestellten Bilder zu schießen, aber ich gebe mein Bestes.
Nervös nestle ich an meinem Aufnahmegerät herum, navigiere durch versteckte Menüs auf der vergeblichen Suche nach einer Einstellung, um rauschenden Regen, peitschenden Wind oder das Grummeln meiner Nachbarn auszufiltern. Die Grummeln, weil der Leiter des EKC gerade bekannt gegeben hat, dass Sir Terry noch nicht da ist. Er sei aber unterwegs und werde sicher bald eintreffen. In der Zwischenzeit wiederholen Herr Naito, Herr Ebihara und Herr Lewis, was sie bereits in der Pressekonferenz gesagt haben. Herr Lewis braucht am längsten und hinter mir schimpfen sie auf ihn, auf die Regierung und auf die Politik im Allgemeinen. Sir Terry dagegen lieben sie. Die Briten lieben auch schwarzen Humor. Aber die Frage, ob Alzheimer-Patient Pratchett den Termin wohl vergessen hat, verkneife ich mir trotzdem.
Als Herr Lewis fertig ist, ist Sir Terry immer noch nicht da und man bittet das versammelte Publikum, sich noch etwas zu gedulden. In der Zwischenzeit erzähle ich meinen deutschen Kollegen von Pratchett. Keiner kennt ihn, obwohl er doch laut dem Independent „einer der besten und einer der lustigen lebenden englischen Schriftsteller“ ist. Vor Jahren hatte ich schon einmal einige seiner Bücher gekauft, fand sie aber nicht so prickelnd. Diesmal, zur Vorbereitung des Interviews, habe ich mir den ersten Scheibenweltroman „The Colour of Magic“ (Die Farben der Magie) gleich im Original bestellt und versuche erneut erfolglos, mich Pratchetts eigenwilligem Humor anzunähern.
Natürlich habe ich auch Pratchett gegoogelt, seine Webseite besucht, seine Fanclubs im Web abgeklappert, und ich habe mit einer Freundin gesprochen, die alle seine Romane im Regal stehen hat. Gesamtauflage 55 Millionen, übersetzt in 36 Sprachen, schießt es mir durch den Kopf und ich denke an das tolle BBC-Interview, das ich am Vortag noch geschaut habe und an die Nachricht, die Sir Terry seiner Fangemeinde zukommen ließ, nachdem man bei ihm Alzheimer diagnostiziert hatte: „Offen gesagt, würde ich es bevorzugen, wenn sich die Leute dadurch die Laune nicht verderben lassen, denn ich denke, es bleibt auf jeden Fall Zeit für ein paar weitere Bücher.“ Das klang sympathisch. Ebenso wie das P.S.: „Ich will noch jeden, der dies liest darauf hinweisen, dass meine Nachricht als „Ich bin nicht tot.“ interpretiert werden sollte. Natürlich werde auch ich irgendwann in der Zukunft einmal tot sein, dabei stelle ich keine Ausnahme dar. Von meinem Blickwinkel aus ist dieser Zeitpunkt allerdings weiter weg als ihr denkt – es ist zu früh darüber zu spekulieren. Ich weiß, dass es zwar typisch menschlich ist, zu fragen „Gibt es irgendetwas was ich tun kann?“, aber in diesem Fall würde ich mich nur über solche Nachfragen von führenden Experten der Neurochemie freuen.“
Zwischendurch ein Kompliment an die Gastgeber: Sie bewahren die Contenance eine weitere halbe Stunde, während ich meine Felle davon schwimmen sehe. Dann die erlösende Nachricht, in mehreren Etappen: Sir Terry ist gelandet, er ist auf dem Weg, er ist da. Es betritt die Bühne ein kleiner Mann mit einer dünnen Stimme, einem großen Bart und einem schwarzen Zauberhut. Ein völlig unvorhersehbares Ereignis habe ihn aufgehalten, entschuldigt er sich: Regen in England. Und beschreibt seine Gedanken, als man ihm seine Krankheit eröffnete, seine Gefühle und seine Suche nach einem Ausweg. Irgend etwas stimmt hier nicht, wundere ich mich über den klaren Vortrag mit humorvollen Anklängen.
Später werde ich beim Durchwühlen meiner Lehrbücher erfahren, dass die bei Pratchett festgestellte „Posteriore Kortikale Atrophie„, auch Benson-Syndrom genannt, sich von der „normalen“ Alzheimer-Krankheit unterscheidet und dass die Betroffenen ein deutlich besseres Sprachvermögen, ein besseres Gedächtnis und mehr Einsicht in ihre Krankheit haben, als bei typischen Fällen von Alzheimer. Das Medikament Aricept von Eisai nimmt er trotzdem, sagt Pratchett. Und dass es ein „schönes, warmes Gefühl“ sei, eine Million Dollar für die Forschung zu spenden.
Sir Terry stockt des Öfteren bei seinem Vortrag und er lispelt ein wenig und spätestens jetzt wird mir klar: Dies wird kein leichtes Interview. Ich schaue auf die Fragen auf meinem Notizblock. Wie redet man mit einem brillanten Geist, dem eine schwere Krankheit seine Begabung raubt? Eine halbe Stunde habe ich – ob das wohl reicht, um mich diesem Mann soweit anzunähern, dass er offen mit mir spricht? Die Antwort werde ich nie erfahren, denn nach vier Minuten bedeutet man mir, jetzt bitte mit meinen Fragen zu Ende zu kommen, schließlich wollen die anderen auch noch ´ran. Nach 6 Minuten und 30 Sekunden ist das „Interview“ zu Ende und weil der ganze Zeitplan durcheinander gekommen ist und die Financial Times noch wichtiger ist als mein Auftraggeber, gibt es auch kein Interview mehr mit Naito und der geneigte Leser wird sich weiter mit der Frage quälen müssen, woher die Firma Eisai ihren Namen hat.
Man bietet mir ein Telefoninterview mit Herrn Naito an, doch irgendwie ist mein Elan dahin und außerdem war es ja ohnehin Sir Terry, mit dem ich meinen Auftraggeber zu dem Termin in London überreden konnte. In den folgenden Tagen versuche ich einen letzten faulen Trick, um meinen Text zu retten: Ich durchforste das Internet nach Nachrichten der Kollegen, um doch noch die kritische Masse an Aussagen von Sir Terry zusammen zu kratzen. „In den nächsten beiden Jahrzehnten wird es einen Tsunami an Alzheimer-Patienten geben, die alle verzweifelt auf eine Behandlung hoffen, die ihnen das Leben mit dieser Krankheit erleichtert“, hat er gesagt. Und dass wir die Forschung beschleunigen müssen und die neuen Arzneien schneller an die Patienten bringen. Und dass er hoffe, dass alle Mitarbeiter in dem neuen Zentrum dafür Überstunden machen werden. Es ist der gleiche Wortlaut wie auf Seite Eins der Pressemitteilung.