Spermien als Fähren für fremdes Erbgut?

Mit das Schönste an meinem Beruf ist das Privileg, mit dabei sein zu dürfen, wenn Forscher Neues entdecken. Doch auch ein Blick in die Vergangenheit kann lehrreich sein. Deshalb werde ich bei Simmformation künftig außer aktuellen Entwicklungen auch den einen oder anderen ausgewählten Artikel aus dem Archiv hier auf die Startseite holen. Wir beginnen mit einem Artikel aus meiner Praktikantenzeit bei der WELT. Das war anno 1989 und ich bin froh, dass ich offenbar das richtige Gespür hatte und dem Titel  ein Fragezeichen hinzufügte…

Die Fähigkeit von Samenzellen, fremdes Erbgut in Form von DNA-Bruchstücken aufzunehmen, könnte die Übertragung von Genen (Gentransfer) zwischen verschiedenen Tierarten erheblich erleichtern. Auch die heiß diskutierte Gentherapie, bei der Krankheiten durch Transplantation fremder Gene kuriert werden sollen, würde stark vereinfacht. Fieberhaft versuchen Wissenschaftler zurzeit die Ergebnisse einer italienischen Arbeitsgruppe zu wiederholen, die nach eigener Aussage ein genial einfaches Verfahren gefunden hat, fremde Gene in tierische Keimzellen einzuschleusen. Wenig mehr als das Eintauchen von Spermien in eine Lösung fremder DNA soll genügen, um die Samenzellen zu „Genfähren“ zu machen.

Römische Forscher um Corrado Spadafora hatten Mäusespermien im Reagenzglas mit fremdem Erbmaterial vermischt. Nach der Befruchtung von Eizellen entstanden Embryonen, die in die Eileiter weiblicher Mäuse transferiert wurden. Von 250 derart gezeugten Mäusen trugen fast 30 Prozent die fremde DNA in ihren Körperzellen. Bei dem bisher üblichen Verfahren werden die fremden Gene mit aufwendigen Injektionsapparaturen in die Kerne bereits befruchteter Eizellen gespritzt. Diese Arbeit ist sehr zeitaufwendig und verlangt erhebliches Geschick aufseiten der Experimentatoren. Maximal jede vierte so „hergestellte“ Maus ist transgen, trägt also fremdes Erbmaterial zusätzlich zu ihrem eigenen. Wie die Arbeitsgruppe berichtete, gelang es, die neue Methode auch bei Krallenfröschen anzuwenden. Ein sizilianisches Forscherteam konnte bei Seeigeln ähnliche Erfolge erzielen.

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Andere Forscher nehmen die Ergebnisse allerdings mit Skepsis auf: Dr. Ulrich Rüther vom Europäischen Molekularbiologischen Laboratorium (EMBL) in Heidelberg, der sich schon seit Jahren mit der Übertragung fremder Gene auf die Maus beschäftigt: „Ich glaube nicht, dass es funktioniert.“ Die Art und Weise, wie die Analyse in dem Fachblatt „Cell“ präsentiert wurde, entspreche nicht dem wissenschaftlichen Standard; wichtige Kontrollversuche fehlten, allgemein sei der Artikel sehr oberflächlich geraten.

Bereits 1971 erschien ein Artikel in den „Proceedings“ der Amerikanischen Akademie der Wissenschaften, in dem von der Übertragung fremder DNA mittels Kaninchenspermien berichtet wurde. Damals verfügte man aber noch nicht über die Nachweismöglichkeiten, die heute durch die Wissensexplosion auf dem Gebiet der molekularen Biologie zur Verfügung stehen. Ohnehin beachteten nur wenige Forscher die Arbeit.

Die Idee, dem Samen auf dem Weg zur Eizelle auch noch fremdes Erbgut mitzugeben, ist also nicht so ungewöhnlich. „Ich weiß von Leuten, die das zum Teil schon seit Jahren versuchen“, erklärte Rüther. Bis jetzt habe es allerdings nicht geklappt. Ungewöhnlich sind die Begleitumstände, unter denen der Artikel veröffentlicht wurde. Die angesehenen Schweizer Molekularbiologen Max Birnstiel und Meinrad Busslinger hatten in der gleichen Zeitschrift den Beitrag der Italiener in einem Übersichtsartikel gewürdigt. Beide arbeiten am Forschungsinstitut für molekulare Pathologie in Wien, Birnstiel als dessen Direktor. Diese Forschungsstätte wird sowohl von Boehringer Ingelheim als auch von der amerikanischen Firma Genentech finanziell unterstützt und hat nun Patentansprüche angemeldet, die auf Spadaforas Arbeit basieren.

Beide Gruppen standen während der Experimente in engem Kontakt miteinander, eine Tatsache, die in dem Übersichtsartikel der Schweizer nicht erwähnt wird. Birnstiel und Busslinger empfehlen den Lesern der Zeitschrift allerdings, den Artikel der Italiener mit ebenso großer Skepsis zu behandeln wie die Berichte zur Kernfusion bei Raumtemperatur (der Beweis für dieses Phänomen ist immer noch nicht erbracht). Wie Birnstiel bekannt gab, werde zurzeit auch in seinem Labor an der Wiederholung des Versuchs gearbeitet.

(erschienen in der WELT am 8. Juli 1989)

Quellen164-glasses-2@2xLavitrano M, Camaioni A, Fazio VM, Dolci S, Farace MG, Spadafora C. Sperm cells as vectors for introducing foreign DNA into eggs: genetic transformation of mice. Cell. 1989 Jun;57(5):717-23. PubMed PMID: 2720785.

Brackett BG, Baranska W, Sawicki W, Koprowski H. Uptake of heterologous genome by mammalian spermatozoa and its transfer to ova through fertilization. Proc Natl. Acad Sci U S A. 1971 Feb;68(2):353-7. PubMed PMID: 5277085.

59-info@2x Was ist daraus geworden? Professor Spadafora forscht immer noch an dem Verfahren, im Jahr 2012 hat er sogar ein ganzes Buch dazu heraus gebracht. Als „Spermienvermittelter Gentransfer“ wird die Methode in der Wikipedia beschrieben, und der englische Suchbegriff „sperm mediated gene transfer“ lieferte bei Google zuletzt 426.000 Ergebnisse. Was immer der Grund sein mag: In der Praxis hat sich das Verfahren meines Wissens nicht durchsetzen können. Ich bin froh, dass ich seinerzeit hinter die Unterzeile „einfaches Verfahren zur Genübertragung entdeckt“ ein Fragezeichen gesetzt habe. (aktualisiert am 18. August 2015)

MSimm
Journalist für Medizin & Wissenschaft