Radon – Der gefährlichste Luftschadstoff Deutschlands?

„Nach unserer Einschätzung ist Radon der gefährlichste Luftschadstoff in Deutschland.“ Mit dieser Meinung, vorgetragen auf einem Seminar der Arbeitsgemeinschaft der Großforschungseinrichtungen (AGF), steht Dr. Herwig Paretzke nicht allein. „Da die meisten Menschen es vorziehen, in einem geschlossenen Haus zu leben, müssen wir uns mit einem gewissen Risiko abfinden.“ Auch auf die Frage, wie groß denn dieses Risiko sei, hat Paretzke eine Antwort parat: „Wir schätzen, dass zehn Prozent des Lungenkrebsrisikos in Deutschland durch Radon verursacht wird.“

Zwei Tage lang hatten Experten in Bonn über das Thema „Umwelt und Krebs“ diskutiert und versucht, die Bedeutung einzelner Faktoren zu bewerten. Völlig einig sind die Wissenschaftler sich nur beim Zigarettenrauch, der für fast ein Drittel aller Krebstoten verantwortlich gemacht wird. Die Belastung der Bevölkerung durch Dioxin und dessen Abkömmlinge wurde dagegen bisher wohl eher zu hoch eingeschätzt.

Vor kurzem korrigierte daher die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ihre Empfehlung zur „duldbaren Aufnahme“ des Sevesogiftes nach oben: Eine tägliche Aufnahme von 10 billionstel Gramm Dioxin pro Kilogramm Körpergewicht sei noch nicht bedenklich, urteilten die Experten nach sorgfältiger Durchsicht der Daten von Zehntausenden dioxinexponierter Personen. Zuvor hatte man den Schwellenwert auf ein Picogramm veranschlagt, eine Marke, die auch weiterhin für Deutschland angestrebt wird.

Während somit das „Supergift“ Dioxin allmählich wieder aus den Schlagzeilen verschwinden dürfte, wendet sich die Aufmerksamkeit nun dem Radon zu, einem Edelgas, das aus den Tiefen des Erdreiches aufsteigt und beim Zerfall radioaktive Strahlung in Form von Alpha-Teilchen freisetzt. Es handelt sich dabei um einen natürlichen Prozess, der größtenteils im Untergrund abläuft und für den Menschen erst dann gefährlich wird, wenn das Radon nicht entweichen kann, sondern in Kellergewölben oder gar im Wohnzimmer „gefangen“ wird. Die Verteilung des Radons im Erdreich ist abhängig von der jeweils vorherrschenden Gesteinsart, es findet sich besonders in granithaltigen Böden.

Das Problem hat vor allem in den USA eine Fülle von Aktivitäten ausgelöst. Dort verlangen neuerdings immer mehr Interessenten beim Häuserkauf Bericht über die gemessenen Radonkonzentrationen. Der Kongress verabschiedete bereits 1988 ein „Radonverminderungsgesetz“ mit dem Ziel die Radonkonzentrationen in Häusern auf die Werte zu reduzieren, die im Freien herrschen. Die durchschnittlichen Kosten für Ventilationsmaßnahmen und Abdichtungen würden pro Haus etwa 15.000 Mark betragen. Das Geld, so meint man bei der Umweltschutzbehörde EPA, sei gut angelegt, weil jährlich bis zu 20.000 Fälle von Lungenkrebs auf das Konto von Radon gingen.

In Deutschland sind vor allem das Fichtelgebirge, Teile des Saarlandes und das Erzgebirge betroffen. Bereits im Jahre 1597 hatte Agricola vom „Schwarzem Tod“ in den Gruben des sächsischen Schneeberg berichtet; heute weiß man, dass es sich dabei um Tumoren der Lunge handelt, die bei Bergarbeitern bis in unsere Zeit gehäuft beobachtet wurden. Genau das aber ist auch der Schwachpunkt der bisherigen Studien: Sie stützen sich nämlich vorwiegend auf Auswertungen der Lungenkrebshäufigkeit bei Bergarbeitern.

Diese Bevölkerungsgruppe aber hat Radon nicht etwa in Form des „reinen“ Edelgases inhaliert. Vielmehr wurde Aerosol eingeatmet, kleine Staubpartikel also, an deren Oberfläche das Radon haften blieb. Der Unterschied ist gravierend, weil reines Radon praktisch mit dem nächsten Atemzug die Lunge wieder verlässt, während Aerosolteilchen ähnlich wie Zigarettenrauch lange Zeit ihre zerstörerische Wirkung auf die Atemwege entfalten können. Eine Untersuchung an Kumpeln, die im amerikanischen Bundesstaat Colorado Uran abbauten, konnte zeigen, dass die Krebsgefahr um ein Vielfaches zunahm, wenn die Bergleute ihre Lungen zusätzlich mit Zigarettenrauch malträtierten.

Dr. Bernhard Cohen von der Universität Pittsburgh kommt bei gründlicher Analyse der Daten für die „normale“ Bevölkerung denn auch zu dem Schluss, dass Radon bei den geringen Mengen, die in „Durchschnittshäusern“ gefunden werden, keinen nachteiligen Effekt auf die Gesundheit hat. Cohen meint, man solle sich auf die verhältnismäßig geringe Anzahl von Häusern mit hoher Belastung konzentrieren und diese gezielt sanieren. Diese Empfehlung entspricht im Übrigen der deutschen Vorgehensweise in den hauptbetroffenen Gebieten, vor allem in den neuen Bundesländern.

(erschienen in der WELT am 17. Dezember 1990)

MSimm
Journalist für Medizin & Wissenschaft