Die Spürhunde des Immunsystems

Warum gibt es trotz jahrzehntelanger Forschung immer noch nicht die „Pille gegen den Krebs“, jene „magischen Kugeln“, von denen zur Jahrhundertwende einer der Väter der Immunologie, Paul Ehrlich, träumte? Tumoren, so meinte er, wurden Strukturen aufweisen, die bei gesunden Zellen nicht vorkommen. Das Immunsystem würde diese „tumorspezifischen“ Strukturen (Antigene) erkennen und die meisten kranken Zellen vernichten.

Nach den tumorspezifischen Antigenen suchen die Wissenschaftler noch heute. Als wichtigstes Werkzeug dient ihnen dabei eine besondere Klasse von Biomolekülen, die der Organismus zur Abwehr fremder Substanzen herstellt, die Antikörper. Diese Y-förmigen Eiweißmoleküle werden von den B-Zellen des Immunsystems gebildet. Man schätzt, dass sie zwischen einer und hundert Millionen verschiedene Antikörper produzieren. Jeder dieser Antikörper erkennt nur eines von unzähligen möglichen Antigenen.

Georges Köhler entwickelte 1974 ein Verfahren, mit dem sich einzelne Antikörper beliebig vermehren ließen. Heute ermöglichen diese „monoklonalen“ Antikörper (mAKs) eine rasche Identifizierung von Mikroorganismen und helfen bei der Diagnose vieler Krankheiten. Auch für die Erkennung und Behandlung von Krebserkrankungen erhofften sich die Forscher Fortschritte von den mAKs. Doch der Optimismus war voreilig – diese Bilanz zog jetzt Prof. Sabine von Kleist (Freiburger Institut für Immunbiologie) auf der 62. Titisee-Konferenz des Boehringer Ingelheim Fonds.

Herstellung monoklonaler Antikörper am Nationalen Krebsforschungsinstitut der USA (NCI)

Einig waren sich die Forscher darin, dass mAKs zwar keine Wunder vollbringen können, dennoch aber schon heute in der Diagnose von Krebs eine wichtige Rolle spielen. „Ich glaube nicht, dass die Krebserkennung mit monoklonalen Antikörpern zur Routinetechnik wird, vielmehr wird dies immer nur eine zusätzliche diagnostische Maßnahme sein“, so dämpft Frau von Kleist die Hoffnungen. Denn obwohl es viele sogenannte Tumor-Marker gibt, Moleküle also, die auf Krebszellen gehäuft auftreten, blieb die Suche nach Molekülen, die ausschließlich auf Tumoren zu finden sind, beim Menschen bisher erfolglos. Die Hoffnung, mit mAKs alle Krebserkrankungen nachweisen zu können, bleibt daher Illusion.

Für Lungen-, Brust- und Leberkrebs etwa liegt die „Trefferquote“ zwischen 60 und 90 Prozent. Die meisten Tumoren werden heute durch Röntgenverfahren und mit Hilfe der Computertomographie entdeckt. Antikörper kommen besonders dann zum Einsatz, wenn Verdacht auf eine Krebserkrankung besteht, diese jedoch mit herkömmlichen Verfahren nicht nachgewiesen werden kann.

Auch bei Patienten, denen bereits ein Tumor entfernt wurde, sind mAKs zur Kontrolle wichtig. Sie können nämlich neu auftretende Geschwülste bereits in sehr frühem Stadium erkennen. Diese Information erleichtert es dem Arzt dann, seine Behandlung so abzustimmen, dass maximale Heilungschancen mit möglichst geringen Nebenwirkungen verbunden sind.

Um das Wiederfinden der Antikörper überhaupt zu ermöglichen, werden sie chemisch mit radioaktiven Substanzen oder mit Farbstoffen „gekoppelt“. Einmal in die Blutbahn des Patienten gelangt, suchen sie sich wie Spürhunde ihr Ziel und „beißen“ sich daran fest. Die Strahlung, die beim radioaktiven Zerfall entsteht, ermöglicht es dann, die Position zuvor unsichtbarer Krebszellen zu ermitteln. Die farbigen Antikörper dagegen verraten sich erst bei der mikroskopischen Betrachtung von Gewebeproben durch ein intensives grünes oder rotes Leuchten.

Schon bald nach der Aufklärung der komplizierten Regeln, nach denen diese Moleküle aus mehreren Eiweißketten zusammengesetzt werden, versuchten einige Forscher, die Eigenschaften der Antikörper gezielt zu verändern. So ist etwa die „Lebenserwartung“ eines Antikörpers von einem Baustein abhängig, der als „Konstante Region“ bezeichnet wird und etwa dem Stamm des Ypsilon entspricht. Jim Primus nutzt diese Erkenntnis, um Antikörper mit maßgeschneiderter Lebensdauer zu produzieren. Kurzlebige mAKs für die Tumorerkennung, langlebige für die gezielte Zerstörung von entarteten Zellen sind das Ziel dieser Arbeit.

Dazu bringt Primus jeweils eines von mehreren möglichen Genen für die Konstante Region in seine Zellen. An Mäusen erprobt Primus derzeit Antikörper, die nur aus einer, statt aus vier Eiweißketten bestehen. Diese Kunstprodukte sollten besser verträglich sein und wegen ihrer reduzierten Größe schneller in den Tumor eindringen können.

Langfristig sollen Antikörper nicht nur beim Nachweis, sondern auch bei der Zerstörung von Tumorzellen zum Einsatz kommen. Dabei werden die Antikörper mit einem „Sprengsatz“ versehen. Dazu koppelt man starke Gifte an die mAKs, die dann direkt am Tumor ihre tödliche Wirkung entfalten. Auch stark radioaktive Substanzen werden benutzt. Beim Zerfall dieser Stoffe werden die gebundenen Zellen mit energiereicher Strahlung bombardiert und – im Idealfall – abgetötet. In Tierversuchen wurden mit dieser Behandlungsform schon erste Erfolge erzielt, die Anwendung am Menschen aber macht nur langsame Fortschritte.

Jean-Piere Mach vom Biochemischen Institut der Universität Lausanne warnt vor allzu hohen Erwartungen. Der Mediziner war einer der ersten, der radioaktiv markierte Antikörper am Patienten erprobte. Das Problem besteht darin, das Zerstörungspotential der „vergifteten“ Eiweißstoffe auf die Tumorzellen zu begrenzen. Hier schließt sich der Kreis: Auch die mAKs sind nicht spezifisch genug; sie binden an gesunde Zellen und strahlen auf ihrem Weg durch die Blutbahn. In der Regel wird dabei das blutbildende Knochenmark derart in Mitleidenschaft gezogen, dass eine Transplantation erforderlich ist.

Obwohl Mach eine enorme Strahlungsdosis (2000 bis 3000 rad) auf die Krebszellen zu richten vermag, können Heilungserfolge nur bei einem kleinen Teil der Patienten erzielt werden. Gelänge es, durch verbesserte Antikörper die Belastung für gesundes Gewebe konstant zu halten und die Dosis für die Krebszellen nochmals zu verdoppeln, ließen sich deutlich bessere Resultate erzielen.

Vielleicht aber sind die mAKs gar nicht das Ei des Kolumbus. Mit einer „aktiven Immuntherapie“ will Volker Schirrmacher vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg die Killerzellen (zytotoxische T-Lymphozyten) des menschlichen Körpers aktivieren. Diese besonders schlagkräftigen Zellen sind ohne fremde Hilfe nicht in der Lage, Tumorzellen zu erkennen.

Schirrmacher entfernte bei Mäusen operativ einen Tumor, der bereits begonnen hatte, lebensbedrohliche Tochtergeschwüre zu bilden. Dann infizierte er die so gewonnenen Krebszellen im Reagenzglas mit einem für Menschen ungefährlichen Virus. Die infizierten Tumorzellen wurden schließlich bestrahlt, um sie an einer weiteren Vermehrung zu hindern, und den Mäusen als Impfstoff verabreicht. In verschiedenen Versuchsreihen überlebten zwischen 50 und 80 Prozent der so behandelten Tiere; Mäuse, denen nur der primäre Tumor entfernt worden war, starben dagegen allesamt an dessen aggressiv wuchernden Tochtergeschwüren.

„Wir glauben, dass wir die Tumorzellen ausgelöscht haben und nicht nur deren Wachstum verlangsamen konnten“, kommentiert der Immunologe. Doch was war passiert? Schirrmacher vermutet, dass die geheilten Mäuse ihr Leben den Viren verdanken. Offenbar wurden Tumorantigene in Kombination mit Virusbestandteilen so präsentiert, dass die Killerzellen die fremden Strukturen erkennen konnten. Zusätzlich könnten die Viren zur Produktion von Signalmolekülen wie Interferon und Interleukin geführt haben und somit ein ganzes Spektrum von verschiedenen Immunzellen aktiviert haben.

Mittlerweile wurde diese Art der Krebstherapie bereits an den ersten Patienten erprobt. Die Hinweise darauf, dass das Immunsystem auf diese Art der Impfung reagiert, sind deutlich, schwere Nebenwirkungen waren nicht zu beobachten. Noch ist aber nicht genug Zeit verstrichen, um auch einen möglichen Heilungserfolg der aktiven Immuntherapie zu beurteilen.

Mittlerweile wurde diese Art der Krebstherapie bereits an den ersten Patienten erprobt. Die Hinweise darauf, daß das Immunsystem auf diese Art der Impfung reagiert sind deutlich, schwere Nebenwirkungen waren nicht zu beobachten. Noch ist nicht genug Zeit verstrichen, um auch einen möglichen Heilungserfolg der aktiven Immuntherapie zu beurteilen.

„Krebs ist zu schwer“, soll Ehrlich resigniert haben, nachdem jahrelange Versuche gescheitert waren, einen Impfstoff zu entwickeln. Auch wenn die „Pille gegen den Krebs“ ein Wunschtraum bleiben wird: die Erfolge der letzten Jahre nähren die Hoffnung, den Altvater der Immunologie doch noch zu widerlegen.

(erschienen in der WELT am 9. Juni 1990. Letzte Aktualisierung am 12. März 2017)

Was ist daraus geworden? Der Besuch meiner ersten Titisee-Konferenz im Jahr 1990 hat mich damals fasziniert – auch wenn die Stimmung angesichts nur langsamer Fortschritte eher gedämpft war. Viele der dort versammelten Wissenschaftler sollten später bedeutende Beiträge im Kampf gegen den Krebs leisten. Der Eingangs erwähnte Georges Köhler hatte für seine Methode zur Zucht monoklonaler Antikörper im Jahr bereits im Jahr 1984 den Medizin-Nobelpreis bekommen und verstarb 1995 an einer Lungenentzündung. Sein Vermächtnis besteht aus einer gewaltigen Zahl von monoklonalen Antikörpern, die heute sowohl bei der Diagnose, als auch bei der Therapie vieler Krebsarten zum Einsatz kommen.

Experten streiten über „adaptive“ Immuntherapie

Heftige Kritik üben einige Experten an einer neuen Form der Krebsbehandlung, die derzeit in mehreren US-Kliniken erprobt wird. Diese „adaptive Immuntherapie“ erfülle nicht die in sie gesetzten Erwartungen und sei zudem teurer und mit mehr Nebenwirkungen verbunden als vergleichbare Verfahren.

Entwickelt wurde die Therapie von Steven Rosenberg, Chefchirurg am amerikanischen Krebsforschungsinstitut in Maryland. Rosenbergs erklärtes Ziel ist es, Krebserkrankungen durch „trainieren“ der körpereigenen Abwehrzellen zu bekämpfen. Dazu werden den Patienten zunächst weiße Blutzellen (Lymphozyten) entnommen, die dann im Labor mit dem Signalmolekül Interleukin-2 (IL-2) „gefüttert“ werden. Das gentechnisch hergestellte Eiweiß kann die Lymphozyten in aggressive Killerzellen (LAK) verwandeln. Zusammen mit IL-2 werden die kräftig vermehrten LAK schließlich in die Blutbahn der Patienten zurückgespritzt. Von dort gelangen sie in jeden Winkel des Körpers, um ihre zerstörende Wirkung an Krebsgeschwüren zu entfalten.

Naturgemäß ist ein derartiger Eingriff mit schweren Nebenwirkungen verbunden. Die Vermehrung der Lymphozyten im Gewebe des Patienten kann die Funktion lebenswichtiger Organe beeinträchtigen. Als Folge der IL-2-lnjektionen sammeln sich große Flüssigkeitsmengen im Gewebe an. Manchmal müssen die Patienten deshalb in der Intensivstation gepflegt werden. Die adaptive Immuntherapie ist also mit enormen Belastungen für die Patienten verbunden; zudem kann eine Behandlung bis zu 50000 Mark kosten.

An der Frage, ob Rosenbergs Methode anderen Behandlungsformen wirklich überlegen ist, scheiden sich die Geister. Der Mediziner sieht sich genötigt, „seine“ Form der biologischen Krebsbekämpfung gegen die Vorwürfe mancher Kollegen zu verteidigen. Die Immuntherapie „kann wirkungsvoll sein. Bisher kann die Methode nur einer begrenzten Zahl von Patienten helfen, aber vielleicht ist das nur ein Anfang.“

Arzt, Forscher, Lebensretter: Steven A. Rosenberg im Jahr 2008 (Foto: Rhoda Baer, NCI)

Nach der Veröffentlichung der ersten Ergebnisse im Jahr 1985 habe die Öffentlichkeit ihre Erwartungen zu hoch geschraubt, sagte Rosenberg in einem Interview. Damals kam es unter 25 „hoffnungslosen Fällen“, bei denen alle Heilungsversuche mit herkömmlichen Verfahren versagt hatten, bei elf zu einer Reduktion oder gar zum völligen Verschwinden der Tumoren.

Damit war bewiesen, dass man sogar größere Krebsgeschwüre im Menschen mit biologischen Methoden bekämpfen kann. Neue Daten aus Rosenbergs Arbeitsgruppe, die an 177 Patienten gewonnen wurden, sind weniger beeindruckend als die ersten Ergebnisse. Dennoch: Bei Nierenkrebs und bösartigem Hautkrebs verschwanden die Tumoren in zehn Prozent aller Fälle vollständig. In ebenso vielen Fällen gelang es, die Größe der Tumoren auf die Hälfte zu reduzieren.

Kliniken außerhalb des amerikanischen Krebsforschungsinstitutes allerdings erzielen mit der adaptiven Immuntherapie weniger deutliche Erfolge. Bei Nierenkrebspatienten etwa wurde ein vollständiger Rückgang der Tumoren nur in jedem 50. Fall beobachtet, auch eine Größenreduktion gelang nur halb so oft wie in Rosenbergs Arbeitsgruppe. Umstritten ist auch die Frage, ob die Teilerfolge, die mit der adaptiven Immuntherapie erzielt wurden, vielleicht nur auf der Wirkung des Interleukins beruhen. Zu diesem Ergebnis kommt nämlich eine neue Untersuchung des Unternehmens Hoffmann-La Roche. Die Gabe von IL-2 alleine wäre nicht nur technisch einfacher zu bewältigen; sie ist auch wesentlich billiger als Rosenbergs ausgefeiltes Konzept.

Rosenberg ist dennoch davon überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein. Auf der Suche nach weiteren Immunzellen, die Krebsgeschwüre bekämpfen können, fand er in operativ entfernten Tumoren die „tumor-infiltrierenden“ weißen Blutzellen (TIL). Bei ersten klinischen Versuchen an Hautkrebspatienten erwiesen sich die TIL – wiederum nach Stimulation mit Interleukin – als noch bessere Tumorkiller als LAK. Schon lange hat Rosenberg Pläne in der Schublade, die LAK und TIL gentechnisch zu verändern und somit noch wirksamer zu machen. Innerhalb eines Jahres könnte der Chefchirurg so zum weltweit ersten Gentherapeuten werden. übertriebene Hoffnungen auf einen plötzlichen Durchbruch in der Krebsbehandlung scheinen – auch angesichts der jüngsten Erfahrungen – dennoch fehl am Platz.

(leicht gekürzt erschienen in der WELT am 6. Juni 1990, letzte Aktualisierung am 9. März 2017)

Was ist daraus geworden? Rosenberg hat viele Rückschläge hinnehmen müssen und stand oft in der Kritik. Heute ist er anerkannt als einer der Pioniere der modernen Krebstherapie. Mit seiner Immuntherapie und mit gentherapeutischen Verfahren habe er „lebensrettende Behandlungen für Millionen von Krebspatienten entwickelt“, urteilte beispielsweise die Washington Post. Eine gentechnisch hergestellte Variante von Interleukin-2 ist zur Behandlung des Nierenzellkarzinoms zugelassen, in den USA auch beim fortgeschrittenen (metastasierten) schwarzen Hautkrebs. Sehr empfehlenswert, aber schwer zu kriegen ist Rosenbergs Buch „Die veränderte Zelle„, aus dem Jahr 1992, in dem der Mediziner auch über seine Motive und den Umgang mit Niederlagen schreibt.

Strahlenschutz: „Ein Meilenstein für die Risikoabschätzung“

Die Gefahr, die dem Menschen bereits durch geringe Strahlenbelastungen droht, wurde wahrscheinlich bisher unterschätzt. Zu diesem Ergebnis kommt ein Report der Amerikanischen Akademie der Wissenschaften. Erwartet wird jetzt eine Reaktion der Behörden in Form einer Verschärfung der bestehenden Strahlenschutzgesetze.

Die nach fast zehnjähriger Arbeit vorgelegte Studie – 421 Seiten dick und 860000 Dollar teuer – ist die genaueste, die jemals zu diesem Thema durchgeführt wurde. Das Risiko, an Krebs zu erkranken, ist demzufolge drei bis vier Mal so groß wie vor angenommen. Die Resultate der Kommission zu den biologischen Auswirkungen ionisierender Strahlung (BEIR V), die derzeit aus 17 unabhängigen Medizinern und Strahlenforschem besteht, werden mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer Herabsetzung der gesetzlich zulässigen Grenzwerte für ionisierende Strahlung führen.

Ionisierende Strahlen gehen nicht nur von Röntgengeräten und Atomlagen aus. Sie entstehen auch beim radioaktiven Zerfall verschiedener Elemente der Erdkruste und sind in der kosmischen Höhenstrahlung enthalten. Im menschlichen Körper kann diese Strahlung zu Veränderungen des Erbmaterials (Mutationen) führen und Krebs auslösen. Seit langem streiten sich Wissenschaftler darüber, wieviel Strahlung der Körper verkraftet, bevor es zu irreparablen Schäden kommt. Gibt es eine untere Grenze, bis zu der ionisierende Strahlen unbedenklich sind? Kann man von der verhältnismäßig hohen Strahlendosis, die bei Versuchstieren zur Entstehung eines Krebsgeschwürs führt, überhaupt Rückschlüsse ziehen auf die Wirkung kleiner Strahlenmengen?

Die bisherigen Richtlinien zum Strahlenschutz beruhen – nicht nur in den Vereinigten Staaten – zum großen Teil auf der Erfassung der Krebsfälle bei den Überlebenden der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki. „Diese Daten sind die bei weitem wichtigste Quelle zur Risikoabschätzung“, so Professor Albrecht Kellerer, Vorsitzender der Strahlenschutzkommission des Bundesumweltministers. Die amerikanische Expertengruppe war sich aber in ihrem letzten Report aus dem Jahre 1979 über die Bewertung der vorliegenden Daten nicht einig geworden: Im Abschlussbericht standen sich die widersprüchlichen Meinungen zweier Fraktionen gegenüber.

Nun hat man beobachtet, dass die Zahl der Krebsopfer unter den Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki auch 40 Jahre nach dem Abwurf der Bomben weiter zunimmt und inzwischen weit über den früheren Voraussagen der Wissenschaftler liegt. Nachdem Physiker Anfang der achtziger Jahre auch noch die Schätzungen über die damals freigesetzten Strahlenmengen nach unten korrigiert hatten, ergibt sich nun ein völlig neues Bild.

Die Gammastrahlung etwa – hauptverantwortlich für den größten Teil der Krebserkrankungen – war also nur etwa halb so stark, wie zuvor geglaubt. Wenn aber die freigesetzte Strahlung geringer war, als angenommen, und dennoch zu mehr Krebstoten führte als erwartet, mussten die früheren Modelle falsch sein. Für 95000 Überlebende wurde daher mit einem immensen Aufwand nachgerechnet, wie viel Strahlung sie im August des Jahres 1945 aufgenommen hatten. Dabei kalkulierten die Experten nicht nur die Abschwächung der Strahlenwirkung durch Luft und Luftfeuchtigkeit mit ein, sondern auch die Schutzwirkung von Fenstern, Dächern und Mauerwerk.

Auch ob die Atombombenopfer dem Explosionsherd zu- oder abgewandt waren und welche Körperseite am stärksten betroffen wurde, floss in die Berechnungen mit ein. Gegenwärtig richten sich die Bemühungen der Forscher darauf, auch noch die empfangene Strahlendosis für einzelne Organe zu ermitteln. Schon heute lässt sich aber sagen, dass das Risiko, nach einer geringen Dosis ionisierender Strahlen an Krebs zu erkranken, drei bis vier Mal größer ist, als bisher angenommen. Obwohl von der Kommission keine öffentliche Stellungnahme erwartet worden war, sagte deren Vorsitzender, Arthur C. Upton, auf einer Pressekonferenz, er erwarte eine Reaktion der Behörden in Form verschärfter Strahlenschutzgesetze.

Dieser Meinung ist auch Warren Sinclair, Präsident des Nationalen Strahlenschutzrates der Vereinigten Staaten. Er sagte, unter dem Druck der neuen Studie könne sich seine Organisation sehr wohl veranlasst fühlen, den gegenwärtigen Grenzwert für Angestellte in Nuklearbetrieben herabzusetzen. Auswirkungen sind auch in der Bundesrepublik Deutschland zu erwarten. „BEIR V ist ein wichtiger Meilenstein für die Risikoabschätzung“, so Kellerer. Der Experte erwartet, dass ein neuer Richtlinienentwurf bereits im Verlauf der nächsten Wochen fertiggestellt wird.

Für 1991 sei dann mit offiziellen neuen Empfehlungen zu rechnen. „Ich glaube, dass die Internationale Strahlenschutzkommission (ICRP) empfehlen wird, die maximal zulässige Strahlenexposition auf 1,5 oder 2 rem pro Jahr herabzusetzen.“ Derzeit gilt in der Bundesrepublik für beruflich strahlenexponierte Personen noch ein jährlicher maximaler Wert von 5 rem. Nach Schätzungen von Kellerer liegt die Zahl der Menschen, deren Strahlenbelastung in Höhe dieses Grenzwertes gelangt, bundesweit bei etwa 100. Im Durchschnitt nehmen die rund 50 000 Menschen, die hierzulande unter das Strahlenschutzgesetz fallen, aber nur 0,5 rem auf. Diese Dosis ist nicht einmal das Doppelte dessen, was der Durchschnittsbürger jährlich verkraften muss.

(erschienen in der WELT am 22. Februar 1990)

Originalliteratur:

National Research Council: Health Effects of Exposure to Low Levels of Ionizing Radiation: BEIR V. ISBN-10: 0309039959. (Kostenloser Download)

Was wurde daraus? Inzwischen sind wir beim 7. Bericht des BEIR Kommittees angelangt. Laut Wikipedia sind sie noch immer eine wesentliche Grundlage der internationalen Strahlenschutzregeln, unter anderem auch der in Deutschland geltenden Grenzwerte gemäß Strahlenschutzverordnung. Die Grenzwerte wurden tatsächlich verschärft und liegen heute für Menschen, die beruflich mit Strahlung zu tun haben, bei 20 Millisievert. Das entspricht 2 rem und etwa dem 7-fachen dessen, was man natürlicherweise an Strahlung aufnimmt – oder auch einem CT-Scan, wie er bei manchen medizinischen Untersuchungen (Herz, Krebs) notwendig ist.

Wachstumshormon HGH – Missbrauch befürchtet

Menschliches Wachstumshormon (HGH), das noch vor wenigen Jahren aus den Hirnanhangsdrüsen (Hypophysen) verstorbener Spender gewonnen wurde, steht jetzt in ausreichender Menge zur Verfügung. Als „Somatotropin“ bietet das mit gentechnischen Methoden produzierte Hormon nicht nur Hoffnung für Klein- und Zwergwüchsige, sondern könnte auch gegen eine Vielzahl anderer Leiden zum Einsatz kommen. Mit der freien Verfügbarkeit und der zu erwartenden Preissenkung wachsen allerdings auch die Sorgen um einen Missbrauch.

Modell eines Somatotropin-Moleküls (Quelle: Wikipedia)

In der Bundesrepublik Deutschland werden nach Schätzungen zwischen 1000 und 2000 Kinder mit dem Medikament behandelt, weltweit sind es über 20000. Ohne HGH würden die Jungen etwa 140 Zentimeter, die Mädchen nur 130 Zentimeter „groß“ werden. Mit einer kurzfristigen Behandlung allerdings ist es nicht getan: Im Schnitt dauert eine HGH-Mangeltherapie zehn Jahre. Die kleinen Patienten oder deren Eltern müssen das Hormon während dieser Zeit fast täglich injizieren. Die Gesamtkosten einer solchen Behandlung belaufen sich auf 200000 bis 300000 Mark.

Doch inzwischen gibt es auch andere, nicht medizinische Beweggründe für eine Behandlung. „Größe wird mit Schönheit und Erfolg gleichgesetzt“, sagt Professor Michael Ranke von der Universitätskinderklinik in Tübingen. Großwüchsige Personen seien im Geschäftsleben und im gesellschaftlichen Umgang erfolgreicher. Auch Ranke wurde bereits mehrfach mit dem Wunsch nach möglichst großwüchsigen Kindern konfrontiert. Der Mediziner erinnert sich an einen Jungen, dem er eine Körpergröße von 1,68 Metern vorhersagte. Das war den Eltern nicht genug. „Aber er will Flieger in der NASA werden, da muss er mindestens noch zehn Zentimeter größer werden“, so wurde der Wunsch nach einer HGH-Behandlung begründet.

Derzeit allerdings darf HGH in der Bundesrepublik nur bei „hypophysärem Minderwuchs in der Wachstumsphase“ eingesetzt werden, wie Dr. Walter Elsässer vom Bundesgesundheitsamt (BGA) in Berlin mitteilte. Dies, obwohl in anderen Ländern mit HGH gute Ergebnisse bei der Behandlung einer ganzen Reihe von Wachstumsstörungen erzielt wurden. Eine kürzlich im „New England Journal of Medicine“ veröffentlichte Studie zeigt die Wirkung des Hormons auch auf den Stoffwechsel bei Erwachsenen: Die meisten Probanden hatten die Fähigkeit zur Produktion von HGH vollständig verloren, nachdem Tumoren der Hirnanhangsdrüse behandelt worden waren. Das fehlende Hormon wurde sechs Monate lang durch tägliche Injektionen ersetzt. Danach hatte sich die Zusammensetzung des Körpergewebes drastisch verändert. Einem Zuwachs der Muskelmasse von 20 Prozent stand ein ebenso deutlicher Abbau des Fettgewebes gegenüber. Auch der Cholesterinspiegel des Blutes verringerte sich deutlich.

Schon lange wird gemutmaßt, dass so mancher Spitzensportler seine Muskelpakete dem HGH verdankt. Im Gegensatz zu einer anderen Hormonklasse, den Steroiden, kann HGH mit den üblichen Dopingtests nicht nachgewiesen werden. Experten warnen aber davor, dass der Muskelzuwachs langfristig durch gesundheitliche Schäden erkauft werden könnte. Herzkrankheiten, Zucker, Arthritis und Gelenkschäden sind als Folge unmäßiger HGH-Einnahme zu befürchten.

Obwohl Professor Ranke derart zweifelhafte Motive ablehnt, sieht er doch eine große Zukunft für das gentechnische Wachstumshormon. So lässt sich zum Beispiel die Wundheilung durch HGH wesentlich beschleunigen. Auch um dem Knochenabbau gegenzusteuern, der besonders bei Frauen nach den Wechseljahren einsetzt, wird sein Einsatz erwogen.

(erschienen in der WELT am 11. Februar 1990, aktualisiert am 2. März 2017)

Originalliteratur:

Salomon F, Cuneo RC, Hesp R, Sönksen PH. The effects of treatment with recombinant human growth hormone on body composition and metabolism in adults with growth hormone deficiency. N Engl J Med. 1989 Dec 28;321(26):1797-803

Was wurde daraus? Gentechnisch hergestelltes HGH kennt man inzwischen auch als Somatotropin. Neben dem Kleinwuchs im eigentlichen Sinne wird es heute auch bei der Behandlung des Ullrich-Turner-Syndrom, des Prader-Willi-Syndrom, bei chronischer Niereninsuffizienz oder bei Kleinwuchs infolge einer intrauterinen Wachstumsverzögerung eingesetzt. In der Doping-Szene und von manchen Bodybuildern wird Somatotropin eingesetzt, obwohl es verboten ist und schwere Gesundheitsschäden hervorrufen kann. Inzwischen steht allerdings ein Test zur Verfügung, der Doping nachweist, indem er gentechisch hergestelltes HGH in der Blutbahn von körpereigenem unterscheidet.

Trinkfeste Männer

Dass Frauen weniger Alkohol vertragen als Männer, schien vielen eine Binsenwahrheit zu sein, die mit dem geringeren Körpergewicht der trinkenden Damen erklärt wurde. Doch auch bei gleichem Körpergewicht werden Frauen schneller beschwipst, der Rausch hält zudem länger an. Ein italienisch-amerikanisches Forscherteam scheint jetzt den kleinen Unterschied herausgefunden zu haben, mit dem diese Beobachtungen erklärt werden können.

Wein wirkt bei Frauen meist stärker als bei Männern. (Foto Copyright 2017, Michael Simm)

Frauen haben nämlich viel geringere Konzentrationen eines alkoholabbauenden Eiweißstoffes in ihren Mägen als Männer. Das Eiweiß mit dem Namen Alkoholdehydrogenase (ADH) wird von den Magenwänden produziert und übt eine schützende Funktion aus, indem es etwa ein Fünftel des Alkohols beseitigt, bevor dieser in die Blutbahn eintritt.

Bei einer Studie an 43 Frauen und Männern zeigte sich nun, dass Frauen wesentlich weniger ADH produzieren und daher fast ein Drittel mehr Alkohol in die Blutbahn aufnehmen als Männer. Rechnet man das geringere Körpergewicht der Damen hinzu, so kommt man zu dem Ergebnis, dass ein Glas Wein dort den gleichen Effekt auslöst wie zwei Gläser Rebensaft bei einem Mann.

Die Forscher machten aber noch eine zweite verblüffende Entdeckung: Während männliche Alkoholiker immer noch halb so viel ADH produzieren wie ihre gesunden Geschlechtsgenossen, fehlt das schützende Eiweiß bei alkoholabhängigen Frauen fast völlig. „Für diese Frauen macht es keinen Unterschied, ob sie den Alkohol trinken oder direkt in die Venen spritzen“, kommentierte Dr. Charles Lieber von der Mount Sinai School of Medicine in New York diesen Befund.

(erschienen in der WELT am 3. Februar 1990, aktualisiert am 27. Februar 2017)

Originalliteratur:

Frezza M, di Padova C, Pozzato G, Terpin M, Baraona E, Lieber CS. High blood alcohol levels in women. The role of decreased gastric alcohol dehydrogenase activity and first-pass metabolism. N Engl J Med. 1990 Jan 11;322(2):95-9

Hepatitis-Viren: Nur das Angriffsziel stimmt überein

Durch Viren verursachte Leberentzündungen (Hepatitis) haben weltweit jährlich über 500000 Todesfälle zur Folge, so schätzen, Experten. Mit den Waffen der modernen Biologie kämpft die Wissenschaft gegen mindestens vier verschiedene Erreger. Die Namen der Erreger (wie Hepatitis A, B oder C-Virus) suggerieren eine enge Verwandtschaft, doch einzige Gemeinsamkeit ist das betroffene Organ, die Leber.

Das Hepatitis A Virus (HAV) ist dabei noch vergleichsweise harmlos. Die winzigen Partikel tragen als Erbsubstanz ein kurzes, fadenförmiges Stück Ribonukleinsäure (RNA), verpackt in eine Eiweißhülle. Infektionen mit HAV sind meist auf verseuchte Nahrungsmittel zurückzuführen. Im letzten Jahr gelang es Prof. Bertram Flehmig vom Hygieneinstitut der Universität Tübingen und seinen Mitarbeitern, einen Impfstoff gegen diese „infektiöse“ Variante der Hepatitis herzustellen (siehe Bericht vom 23. Juni 1989). Die Vakzine, die aus abgetöteten Viren besteht, sollte in wenigen Jahren allgemein verfügbar sein. Allerdings dürfte der relativ hohe Preis die Anwendung auf Touristen beschränken, die in tropische Länder reisen.

Das Hepatitis B Virus (HBV) führt auf noch ungeklärte Weise zu 85 bis 90 Prozent aller Leberkrebsfälle in der Welt und fordert jährlich über eine halbe Million Opfer. Diese Karzinome sind regional sehr unterschiedlich verteilt: In den USA, Europa und Australien gibt es nur einen bis drei Fälle je 100000 Einwohner und Jahr; in Südostasien und weiten Teilen Afrikas sind es zwischen zehn und 150.

Bei einer HBV-Infektion – die Übertragung erfolgt über den Blutweg oder beim Sexualkontakt – vermehrt sich das Virus in der Leber. 95 Prozent dieser Infektionen werden vom Immunsystem gestoppt, diese Personen sind dann gegen weitere Angriffe gefeit. Bei fünf Prozent aber bleibt die Infektion ein Leben lang erhalten. Die meisten Betroffenen erleiden dennoch keinen Leberschaden. In wenigen Fällen aber kommt es zu einer chronischen Leberentzündung.

Der Krebs entwickelt sich meist in einem bereits vorgeschädigten Organ. Durch Experimente an Nagetieren konnte man zeigen, dass die Krankheit offenbar in zwei Schritten verläuft: Während der chronischen Hepatitis teilen sich die Leberzellen schneller als gewöhnlich, um abgestorbene Zellen zu ersetzen. Dabei kommt es zum Einbau viraler DNA in das menschliche Erbgut.

Diese Methode der „Integration“ hat HBV mit dem Aids-Erreger HIV gemein. Da der Einbau ungeregelt und in zufälliger Weise erfolgt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die in der menschlichen DNA gespeicherte Information für die Zelle unleserlich wird. Wenn so Zellteilung und Zellwachstum außer Kontrolle geraten, kann 25 bis 30 Jahre nach der Infektion ein Krebs entstehen.

Bei der Therapie der B-Hepatitis kommt es vor allem darauf an, das Virus an der Vermehrung zu hindern und die virale DNA zu beseitigen. Erfolgreichstes Medikament ist dabei das Alpha-Interferon. Es darf aber nur von erfahrenen Ärzten nach sorgfältiger Abwägung gegeben werden, weil es schwere Nebenwirkungen hat.

Viruserkrankungen lassen sich im Prinzip durch vorbeugende Impfungen verhindern. Für die Hepatitis B war man bis vor kurzem auf Blutplasma von Erkrankten angewiesen, da sich das Virus nicht in Zellkulturen vermehren ließ. Diese Vakzine konnte den Bedarf aber nicht decken und war außerdem nur mit einem hohen Produktionsaufwand zu gewinnen.

Schließlich besteht bei der Verwendung von Blutprodukten immer die Gefahr einer Ansteckung mit schwer nachweisbaren Krankheitserregern. Vor drei Jahren wurde dann erstmals ein gentechnisch hergestellter Impfstoff gegen HBV zugelassen. Bei dem neuen Verfahren werden Bruchstücke des Virus in Hefezellen produziert, die dann nach dreimaliger Impfung vor einer Infektion schützen.

Die Zahl der Träger des Hepatitis B Virus wird global auf rund 300 Millionen geschätzt. Vermutlich ist HBV nach dem Rauchen die häufigste Krebsursache. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat es sich daher zum Ziel gesetzt, diese Krankheit bis zum Jahr 2010 weltweit auszurotten.

Allerdings steht der immer noch hohe Preis der Vakzine Massenimpfungen entgegen. Kosten von über 100 Mark pro Impfung mögen hierzulande akzeptabel sein, für die Entwicklungsländer ist schon ein Dollar zu viel. Die Aussichten der WHO Kampagne auf Erfolg erscheinen daher begrenzt, solange es nicht gelingt, die Zahl der nötigen Impfungen und die Kosten drastisch zu reduzieren.

Mindestens zwei weitere Viren können bei der Hepatitis eine Rolle spielen. Früher als „Nicht-A-Nicht-B-Hepatitis- Erreger“ zusammengefasst, hat man in den letzten Jahren einiges über diese Parasiten dazugelernt. Das Hepatitis C Virus (HCV) ist für die meisten Fälle von Leberentzündung nach Bluttransfusionen verantwortlich. Bislang müssen noch etwa vier bis fünf Prozent der Blutempfänger mit einer Gelbsucht rechnen. Ein neu entwickelter Test, der den Ärzten hierzulande in diesem Jahr zur Verfügung stehen wird, soll die Infektionsgefahr nochmals auf ein Fünftel reduzieren. Eine Interferon-Behandlung zeigt bei ungefähr der Hälfte der Patienten Erfolg.

Das andere „Nicht-A-Nicht-B-Virus“, auch als „E“ bezeichnet, hat den gleichen Übertragungsweg wie HAV. Das E-Agens befällt vor allem jüngere Menschen in Mexiko, Indien, Teilen Afrikas und Südostasiens. Diese Form der Hepatitis hat in der Regel eine gute Prognose, kann aber in der Schwangerschaft mit dem Tod enden. Eine Therapie existiert für dieses Virus bisher nicht.

Ein Sonderling schließlich ist das Hepatitis Delta Virus, HDV. Normalerweise tritt HDV in Kombination mit HBV auf, wobei sich die Hepatitis durch die Anwesenheit von HDV erheblich verschlimmert. Delta hat große Ähnlichkeit mit Krankheitserregern, die als Viroide bezeichnet werden und ausschließlich in Pflanzen vorkommen.

Nach John Germ von der Georgetown- Universität im US-Distrikt Washington stellt HDV den bisher einzigen Vertreter einer völlig neuen Klasse von Erregern dar. Für die Übertragung, nicht aber für die Vermehrung ist HDV auf die Hilfe von HBV angewiesen. Man schätzt, dass etwa 15 Millionen Menschen das Delta-Virus in sich tragen.

(erschienen in der WELT am 20. Januar 1990)

Was ist seitdem passiert? Enorme Fortschritte gab es bei der Bekämpfung fast aller Formen der Virus-Hepatitis. Es gibt Impfstoffe gegen A und B, sogar als Kombination in einer Spritze. Als echter Durchbruch gilt auch die Entwicklung von gut verträglichen und hoch wirksamen Arzneien gegen Hepatitis C. Die Tabletten wirken in kurzer Zeit und erreichen Heilungsraten von mehr als 90 Prozent. 

(letzte Aktualisierung 27. Februar 2017)

Dioxin – Politik braucht Grenzwerte

Wie giftig ist Dioxin? Ab welcher Konzentration besteht eine gesundheitliche Gefährdung des Menschen? Wann müssen die Anwohner verseuchter Deponien evakuiert werden? Diese und andere Fragen standen im Mittelpunkt eines dreitägigen Expertentreffens, das gestern in Karlsruhe zu Ende ging.

Dioxin- hier im Kalottenmiodell – gilt als eine der giftigsten Substanzen für den Menschen

Das Symposium sollte Hilfestellung leisten bei der Beurteilung der Gefahren, die von Dioxinen und den verwandten Furanen ausgehen. Eine einheitliche Empfehlung für gesetzliche Grenzwerte konnten jedoch auch die versammelten Wissenschaftler nicht abgeben. Denn die Risiken, die von Dioxinen und Furanen ausgehen, wurden durchaus nicht von allen Experten gleich beurteilt.

Wie der Präsident des Bundesgesundheitsamtes (BGA), Professor Dieter Großklaus erläuterte, besteht allein die Familie der Dioxine aus über 250 verschiedenen Mitgliedern, von denen das als ,,Seveso-Gift“ bekannt geworden TCDD (2,3,7,8-Tetrachlordibenzo- p-dioxin) wohl das bekannteste sein dürfte. TCDD wurde wiederholt als die giftigste aller bekannten Substanzen bezeichnet, was bezüglich der Wirkung auf Meerschweinchen, Ratten und Mäuse auch experimentell nachgewiesen ist.

Beim Menschen führen bereits kleinste Mengen an TCDD zu schmerzhaften Hauterkrankungen (Chlorakne). Eine Schädigung von Zellen des Immunsystem konnte im Reagenzglas nachgewiesen werden. Bei Versuchstieren kann die Chemikalie Krebs auslösen und stört die Embryonalentwicklung.

Während die Nachweismethoden für die gefährlichen Gifte in den letzten Jahren immer weiter verfeinert wurden, bleibt die Frage, ab welcher Dioxin-Konzentration beim Menschen mit bleibenden Gesundheitsschäden gerechnet werden muss, weiter ungeklärt. Der vom Bundesumweltminister angepeilte Grenzwert für die Freisetzung von Dioxinen und Dibenzofuranen aus Müllverbrennungsanlagen fand jedoch weiten Zuspruch: Der Ausstoß soll demnach auf ein zehntel Nanogramm (Milliardstel Gramm) pro Kubikmeter Abluft begrenzt werden. Ziel der neuen Verordnung, die bereits in einem halben Jahr Rechtskraft erlangen könne, sei es, den modernsten Stand der Technik bei der Minimierung von Luftverunreinigungen zur Anwendung zu bringen.

Dies wäre ,,ein Schritt in die richtige Richtung“ so der Vertreter der hessischen Umweltverbände, Dr. Rolf Neidhardt. Gegenwärtig würden selbst modernste Anlagen noch das Hundertfache des angepeilten Grenzwertes ausstoßen und damit den größten Teil der Umweltbelastungen verursachen Dioxine entstehen außer bei der Verbrennung von chlorhaltigen Verbindungen auch bei deren Produktion, beim Gebrauch bleihaltigen Benzins und bei der Chlorbleiche von Papier- und Zellstoffen.

Messungen des BGA ergaben, dass Luft und Nahrungsmittel in industriellen Ballungsräumen wesentlich stärker mit Dioxinen und Furanen belastet sind als in ländlichen Gebieten. Dennoch scheint die Belastung der Bevölkerung in der Bundesrepublik recht gleichmäßig verteilt zu sein. Wie Großklaus erklärte, werden etwa 90 Prozent der Dioxine durch die Nahrung aufgenommen, die restlichen zehn Prozent mit der Atemluft und durch die Haut.

Eine weitere Belastung des Menschen kann in Innenräumen durch die Verwendung von Holzschutzmitteln auftreten, die Pentachlorphenol (PCP) enthalten. Beim Brand von PVC-haltigen Baustoffen und von bromhaltigen Flammschutzmitteln treten ebenfalls erhebliche Dioxinkonzentrationen auf.

Einheitlich Richtwerte für die Bewertung von Dioxinkonzentrationen im Boden forderte der baden-württembergische Umweltminister Erwin Vetter. Sanierungsmaßnahmen könnten ohne einheitliche Grenzwerte nicht effizient und sinnvoll durchgeführt werden.

(erschienen in der WELT am 18. Januar 1990)

Quellen: Symposium „Health Effects and Safety Assessment of Dioxin and Furans“ und Fachöffentliche Anhörung des Bundesgesundheitsamtes und des Umweltbundesamtes zu Dioxinen und Furanen“ in Karlsruhe vom 15.1. – 18.1.1990.

Was wurde daraus? Schon zum Ende des Jahres 1990 wurde mit der 17. Verordnung zur Durchführung des Bundesimmisionsschutzgesetzes ein Grenzwert für Müllverbrennungsanlagen festgelegt. Es folgten mehrere weitere Gesetze und Verordnungen mit dem Ziel, die Verbreitung von Dioxinen in der Umwelt zu begrenzen. Mit Erfolg: „Die Emissionen haben in den letzten Jahren deutlich abgenommen. Dieser Erfolg ist vor allem auf die verbesserte Abgasreinigung in den Müllverbrennungsanlagen zurückzuführen. Die – illegale – Abfallverbrennung im Kamin oder im Garten macht heute den bedeutendsten Anteil der Dioxinemissionen aus. Die wilde Verbrennung von einem Kilogramm Abfall belastet die Umwelt so stark wie die Entsorgung von zehn Tonnen in einer modernen Müllverbrennungsanlage.“, heißt es in der Wikipedia. Für weitere Informationen empfehlen wir die Seite „Dioxine“ des Umweltbundesamtes.

(letzte Aktualisierung 27. Februar 2016)

Antibiotika aus Ameisen

Eine neu entdeckte Substanz, die von Ameisen abgeschieden wird, schützt vor Infektionen durch Pilze und Bakterien. Dies haben australische Wissenschaftler entdeckt, die mehr als ein Dutzend verschiedener Ameisenarten untersuchten. Metapleurin, so der Name des Antibiotikums, wird von Drüsen in der Brust der Tiere abgesondert und verhindert das Wachstum von Mikroorganismen im Körper der Ameisen. Eine Untersuchung in der Westmead Klinik in Sydney ergab, dass Metapleurin vor allem gegen verschiedene Stämme von Staphylococcus aureus wirkt. Diese, beim Menschen weit verbreitete Mikrobenart kann die Wundheilung nach einer Operation um Monate verzögern und ist häufig gegen andere Antibiotika resistent. Andrew Beattie, der Entdecker des Metapleurins, will nun in Zusammenarbeit mit einem britischen Pharmakonzern herausfinden, ob der neue Wirkstoff auch in der Lage ist, innerliche Pilzinfektionen zu stoppen, die beim Menschen tödlich verlaufen können.

(erschienen in der WELT vom 13. Januar 1990)

Quelle: Hedges S. Ant antibody fights fungal infections in humans. New Scientist 18. November 1989.

Was ist daraus geworden? Offenbar nichts! Eine Google-Suche im Juli 2016 ergab gerade einmal 14 Treffer zum Stichwort „Metapleurin“, die meisten davon sind Jahrzehnte alt und als Wirkstoff in irgendwelchen Medikamenten taucht Metapleurin auch nicht auf.

Test auf Erbschäden

Eizellen können jetzt auf Erbschäden untersucht werden, bevor eine Befruchtung im Reagenzglas erfolgt. Die Methode erlaubt es Frauen, die einen genetischen Defekt haben, die Weitergabe dieses Schadens an ihre Kinder zu verhindern. Die Untersuchung wird auch für Abtreibungsgegner akzeptabel sein, weil Embryonen davon unberührt bleiben, glauben die Entdecker der Methode am amerikanischen Illinois Masonic Medical Center.

Der am 16. Juli 2009 verstorbene gebürtige Russe Yuri Verlinsky gilt heute als einer der Pioniere der Pränataldiagnostik (Foto: Reproductive Genetics via Wikimedia / fair use)
Der am 16. Juli 2009 verstorbene gebürtige Russe Yuri Verlinsky gilt heute als einer der Pioniere der Präimplantationsdiagnostik (Foto: Reproductive Genetics via Wikimedia / fair use)

Wie der Biologe Yuri Verlinsky erklärte, wird zur Untersuchung eine Hälfte des Erbmaterials der Eizelle herangezogen, die während der natürlichen Eireifung ohnehin verloren geht. Zur „Vorbereitung“ der Befruchtung wird nämlich die normalerweise in Körperzellen doppelt vorhandene Erbinformation halbiert; bei der Befruchtung verschmelzen dann mütterliche und väterliche Keimzellen und es entsteht wieder ein doppelter Satz an Erbinformation. Verlinsky und seinen Kollegen gelang es nun, die ungenutzte Hälfte des weiblichen Erbmaterials – das sogenannte Polkörperchen – mit einer sehr feinen Pipette zu entfernen, ohne die Eizelle zu beschädigen.

Die im Polkörperchen enthaltene DNA kann dann unter anderem auf Erbschäden untersucht werden, die für die Mukoviszidose, die Tay-Sachs-Krankheit oder verschiedene Blutkrankheiten charakteristisch sind. Daraus lässt sich ableiten, ob die in der Eizelle verbliebene DNA noch intakt ist. Gesunde Eizellen können dann künstlich befruchtet und in die Gebärmutter eingepflanzt werden. Allerdings hält Verlinsky die neue Methode nur bei Befruchtungen im Reagenzglas für sinnvoll, und auch dann nur für Paare, in deren Familien bestimmte Erbkrankheiten verbreitet sind.

(erschienen in der WELT am 13. Januar 1990)

Quelle: Joyce C. Test finds defects in unfertilised human eggs. New Scientist 25. November 1989.

Was ist daraus geworden? Die von Yuri Verlinsky entwickelte Analyse der Polkörperchen konnte sich nicht durchsetzen. Statt entnimmt man heute dem Embryo nach wenigen Teilungen eine oder zwei Zellen, die dann auf genetische Defekte oder Unregelmäßigkeiten bei der Zahl der Chromosomen untersucht werden. Laut Wikipedia wurden mit dieser Präimplantationsdiagnostik (PID) bislang weltweit mehr als 10000 Kinder gezeugt, um die Weitergabe von Erbkrankheiten zu verhindern. Während die PID in vielen Ländern bereits seit den 1990er Jahren praktiziert wird, ist sie in Deutschland durch das Embryonenschutzgesetz verboten. Erst Ende 2011 wurde dieses Gesetz derart geändert, dass die PID nunmehr ausnahmsweise erlaubt ist, und zwar wenn aufgrund der genetischen Veranlagung der Eltern eine schwerwiegende Erbkrankheit beim Kind oder eine Tot- oder Fehlgeburt wahrscheinlich ist.

Wie ich Ende 2015 vom 6. Kongress des Dachverbandes Reproduktionsbiologie und -medizin (DVR) in Hamburg berichtet habe, kam es nach der Gesetzesänderung nicht zu dem von Kritikern befürchteten Dammbruch, und die Experten erwarten nicht mehr als 200 Fälle pro Jahr.

Schutz vor Bilharziose?

Eine Substanz, die lang anhaltenden Schutz vor einer der größten Plagen der Menschheit vermitteln kann, glauben Forscher der amerikanischen Armee gefunden zu haben. Weltweit leiden etwa 200 Millionen Menschen unter der Schistosomiasis (Bilharziose), einer Tropenkrankheit, die durch parasitische Würmer ausgelöst wird. Jetzt soll eine Creme, die den Wirkstoff Niclosamid enthält und äußerlich aufgetragen wird, verhindern, dass die freischwimmenden Larven (Cercarien) die menschliche Haut durchdringen.

Komplizierter Kreislauf: Verschiedene Arten parasitischer Würmer wandeln mehrfach ihre Erscheinungsform und nutzen Süßwasserschnecken und Menschen, um sich zu vermehren. (Grafik von Ikiwaner via Wikimedia Commons [GFDL 1.2]
Komplizierter Kreislauf: Auslöser der Tropenkrankheit Schistosomiasis (Bilharziose) sind verschiedene Arten parasitischer Würmer. Sie wandeln mehrfach ihre Erscheinungsform und nutzen Süßwasserschnecken und Menschen als Wirte, um sich zu vermehren. (Grafik von Ikiwaner via Wikimedia Commons [GFDL 1.2])
Damit ließe sich der Infektionszyklus durchbrechen, der von Wasserschnecken über die Cercarien zu den erwachsenen Tieren führt. Diese setzen sich in den Blutgefäßen des Darmes und der Leber fest, wo sie Entzündungen und Infektionen verursachen. Bis zu zwanzig Jahre können einzelne Würmer im menschlichen Körper überleben. Während dieser Zeit produzieren die Weibchen täglich Tausende von Eiern, die mit den Körperausscheidungen ins Wasser gelangen, um dort den Kreislauf zu schließen.

Niclosamid, dessen Wirkung auf Cercarien schon seit 1975 bekannt ist, wurde bereits an Mäusen und Affen getestet. Eine einzige Anwendung schützte die Tiere mehr als eine Woche vor der Infektion. Als nächster Schritt soll die Substanz nun an ägyptischen Reisbauern und an Farmern aus der brasilianischen Bahia-Region erprobt werden. Beide Bevölkerungsgruppen sind gezwungen, einen Großteil ihrer Arbeitszeit in Cercarien-verseuchtem Wasser zu verbringen.

Der brasilianische Professor Reynaldo Dietze arbeitet bereits an einer Seife für seine gefährdeten Landsleute, die etwa 0,1 Prozent Niclosamid enthalten wird. Viele Experten aber sind skeptisch. Sie gehen davon aus, dass der neue Wirkstoff für die hauptbetroffenen Menschen in der Dritten Welt zu teuer sein wird und darum in erster Linie amerikanischen Soldaten zugute kommt.

(erschienen in der WELT vom 30. Dezember 1989)

Quelle: Cherfas J. New weapon in the war against schistosomiasis. Science. 1989 Dec 8;246(4935):1242-3.

Was ist daraus geworden? Die Idee mit der Niclosamid-Creme hat sich nicht durchgesetzt. Noch heute sind nach Schätzungen etwa 250 bis 300 Millionen Menschen infiziert, 600 Millionen sind gefährdet. Als Mittel der Wahl gilt heute Praziquantel, das bereits in den 1970er Jahren gemeinsam von den Firmen Bayer und Merck entwickelt wurde. Ein Programm, das die Bilharziose ausrotten soll, wurde im Jahr 2007 von Merck und der Weltgesundheitsorganisation WHO vereinbart, wofür der Pharmakonzern insgesamt mehrere hundert Millionen Praziquantel-Tabletten bereitstellen will bzw. bereits gespendet hat.