Zwei kleine, gesunde Mädchen sind der bislang überzeugendste Beweis dafür, daß die Gentherapie erfolgreich sein kann, wo die klassische Medizin an ihre Grenzen stößt. Vor knapp drei Jahren erhielt Ashanti Desilva am Nationalen Gesundheitsinstitut der USA eine Infusion mit etwa einer Milliarde gentechnisch veränderter weißer Blutzellen. Die sechsjährige Ashanti, die damals an einer lebensbedrohlichen und äußerst seltenen Immunschwächekrankheit litt, führt heute ebenso ein normales Leben wie die elf Jahre alte Cynthia Cutshall, die wenige Monate später behandelt wurde.
Im Rückblick wird das historische Experiment als „Meilenstein in der Geschichte der Medizin“ gefeiert, die beteiligten Ärzte gelten als sichere Kandidaten für den Nobelpreis. Was W. French Anderson, Michael Blaese, Kenneth Culver und andere in mittlerweile gut 25 Studien an knapp 100 Patienten vorexerzierten, soll nun auch in der Bundesrepublik stattfinden:
An der Freiburger Universitätsklinik setzt Roland Mertelsmann auf die Gentherapie, die im Herbst bei 14 krebskranken Freiwilligen erprobt werden soll. Alle herkömmlichen Methoden haben bei diesen Patienten versagt – ein Grund mehr für den Mediziner, die Erwartungen nicht zu hoch zu schrauben. „Mehrere hundert Krebskranke haben bereits nachgefragt“, berichtet Mertelsmann.
Noch stehen die Erwartungen in krassem Mißverhältnis zu den eher spärlichen Erfolgsmeldungen. Andererseits gibt es eine Vielzahl von Gründen für den Optimismus der Beteiligten. Während Arzneimittel in aller Regel nur die Symptome einer Krankheit behandeln können, läßt sich das Übel durch eine Gentherapie oft unmittelbar an der Wurzel packen. Statt Chemikalien im Körper des Patienten abzulagern, liefert die Gentherapie den betroffenen Zellen die fehlenden Informationen, erklärt Detlev Ganten, Direktor des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin in Berlin.
Im Falle von Ashanti und Cynthia war diese Information ein Gen, welches die Bauanleitung für ein einziges Eiweiß enthält. Ohne diesen Biokatalysator – die Adenosin-Deaminase – sammelten sich im Körper der Mädchen Stoffwechselprodukte an, die zu einer schleichenden Vergiftung wichtiger Abwehrzellen führten. Eine nicht abreißende Serie von Infektionen war die Folge; ohne die ständige Einnahme starker Antibiotika hätten die Kinder die Zeit bis zu dem rettenden Eingriff vermutlich nicht überlebt.
Zwar steht seit kurzem das fehlende Eiweiß auch in Medikamentenform zur Verfügung. Die Arznei hat aber gravierende Nebenwirkungen und konnte in mindestens drei Fällen das Leben der kleinen Patienten nicht mehr retten. Weltweit gibt es kaum 30 Kinder, die unter dieser Krankheit – der ADA-Defizienz – leiden. Trotzdem hatten Anderson, Blaese und Culver gute Gründe, die Erfolgschancen einer Gentherapie zunächst an diesem extrem seltenen Leiden zu prüfen.
Schon geringe Mengen des fehlenden Eiweißes reichen nämlich aus, um den Defekt zu korrigieren. Das Ärzteteam spekulierte deshalb darauf, daß es genügen würde, die fehlende Erbinformation zumindest in einen kleinen Teil der betroffenen Immunzellen hineinzuschmuggeln. Bei einer Gentherapie gegen Krebs wären dagegen praktisch alle entarteten Zellen zu zerstören. Um einen Gesunden vor einer Infektion mit dem Aidsvirus zu schützen, müßten gar 100 Prozent der gefährdeten Immunzellen erreicht werden.
Ein weiterer Faktor erleichtert die Gentherapie bei der ADA-Defizienz: Die betroffenen Immunzellen lassen sich relativ leicht aus dem Blutstrom isolieren. Im Labor können die Wissenschaftler
dann in die Trickkiste der modernen Biologie greifen und unter mehreren Varianten des Gentransfers auswählen. Die beliebtesten Helfer sind derzeit Viren, die sich im Lauf der Evolution darauf spezialisiert haben, in die verschiedensten Körperzellen einzudringen und dort ihr genetisches Material abzuladen. Was den Viren unter normalen Umständen hilft, sich auf Kosten des Infizierten zu vermehren, machen die Genforscher sich zunutze.
Längst haben sie die Viren „kastriert“, indem sie aus dem Erbmaterial Gene entfernten, die für die Vermehrung der Parasiten unverzichtbar sind. An ihre Stelle setzten die US-Wissenschaftler im Falle der kleinen Ashanti den molekularen Bauplan zur Herstellung des fehlenden Eiweißes – das ADA-Gen. Im Reagenzglas entluden die umgebauten Viren ihr Mitbringsel in den Blutzellen, die im Labor kräftig vermehrt und schließlich dem Mädchen injiziert wurden. Der Eingriff war erfolgreich und wurde inzwischen auch in Europa zwei Mal durchgeführt.
Da die genmanipulierten Blutzellen nur eine begrenzte Lebensdauer haben, mußten Ashanti und Cynthia die unangenehme Prozedur bisher etwa alle sechs bis acht Wochen erdulden. Den zwei jüngsten Patienten bleibt dies vermutlich erspart: Ein Ärzteteam der Universität San Franzisko erprobte im letzten Monat den Gentransfer auf Stammzellen, die kurz nach der Geburt aus den Nabelschnüren der beiden neugeborenen Knaben gewonnen wurden. Dies hat den Vorteil, daß alle Abkömmlinge der erfolgreich behandelten Stammzellen das gesunde Gen in sich tragen; im Idealfall wäre also die Krankheit mit einer einzigen Behandlung geheilt.
Leider ist es bei Kindern und Erwachsenen äußerst schwierig, die seltenen Stammzellen aufzuspüren und aus dem Knochenmark herauszulocken. In neueren Experimenten hat Gentherapie-Pionier Michael Blaese jedoch auch dieses Problem in Angriff genommen. Im niederländischen Rijswijk wartet außerdem Dinko Valerio auf eine Gelegenheit, seine Version des Gentransfers in Stammzellen an einem der seltenen Patienten mit ADA-Defizienz zu erproben.
Während bei dieser Immunschwächekrankheit weltweit eine Übermacht von Ärzten und Molekularbiologen einer vergleichsweise winzigen Zahl von Patienten gegenübersteht, sieht die Situation bei der Zystischen Fibrose, auch Mukoviszidose genannt, ganz anders aus. „Allein in Deutschland gibt es rund 10000 Patienten, deren mittlere Lebenserwartung beträgt 24 Jahre“, erklärte der Britische Molekularbiologe Robert Williamson.
Die Zellen der Patienten produzieren ein fehlerhaftes Eiweiß, welches bei Gesunden den Export von Natrium- und Chloridionen übernimmt. Ist der Ionentransporter defekt, bildet sich in Lunge und Magen-Darm-Trakt ein zähflüssiger Schleim. Die Kranken sind extrem anfällig für Infektionen durch Pilze, Bakterien und Viren, außerdem ist die Nahrungsverwertung gestört. Schuld ist ein schadhaftes Gen, bei dem in den meisten Fällen nur ein einziger von rund 300000 Bausteinen fehlt.
Williamson, der am Londoner St. Mary’s Hospital arbeitet, wird als einer der Ersten versuchen, diesen Erbdefekt mit den Methoden der modernen Biologie zu korrigieren. Statt wie seine amerikanischen und französischen Kollegen auf Viren zu setzen, hat Williamson seine Therapiegene in winzige Fettkügelchen – sogenannte Liposomen – verpackt. Sie sollen mit einem Aerosol bis in die feinsten Verästelungen der menschlichen Lunge gelangen und mitsamt der heilbringenden Erbsubstanz von den geschädigten Zellen der Luftwege aufgenommen werden. Die gesunden Gene werden dann ausgepackt und sind, wie Tierversuche andeuten, bis zu hundert Tagen in der Lage, die Produktion des fehlenden Eiweißes zu steuern. Danach müßte die Prozedur wiederholt werden.
Wenn der Gentransfer nur bei jeder zwanzigsten Zelle funktioniert, wäre das Problem nach Ansicht von Williamson gelöst. Ob das Versprechen gehalten werden kann, wird sich bald zeigen: Mit
umgebauten Erkältungsviren hat Ronald Crystal vom Nationalen Gesundheitsinstitut der USA vor wenigen Wochen den ersten Patienten behandelt.
Eher zögerlich geht man inzwischen auch in Deutschland ans Werk. Während sich in den USA schon 1984 die erste Ethikkommission mit Möglichkeiten und Folgen der Gentherapie auseinandersetzte, hat Gesundheitsminister Horst Seehofer erst vor kurzem eine Arbeitsgruppe zum Thema einberufen. Sie soll „überprüfen, ob der gegenwärtige rechtliche Rahmen angesichts der sich abzeichnenden stürmischen Entwicklung“ ausreicht. Die in Forscherkreisen weitverbreitete Haltung, ein Gentransfer sei im Prinzip mit einer Organtransplantation vergleichbar und bereite daher keine neuartigen Probleme, findet bei Politikern und in der deutschen Öffentlichkeit bisher wenig Zustimmung.
Neben Roland Mertelsmann, der seine Genehmigung schon in Händen hält, planen derzeit noch vier weitere deutsche Arbeitsgruppen den Einstieg in die Gentherapie. Sie werden große Mühe haben, den Hoffnungen todkranker Patienten und den kühnen Prognosen optimistischer Wissenschaftler gerecht zu werden: „In 50 Jahren werden 50 Prozent aller Behandlungen das Prinzip Gentherapie nutzen“, lautet die Vision von Detlev Ganten, Direktor des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin in Berlin.
(Originalfassung eines Artikels für die VDI-Nachrichten, erschienen am 30. Juli 1993)