Vorbeugen ist besser als abwarten, sollte man meinen. Was für Zahnärzte selbstverständlich ist, wird jedoch von vielen Aidsforschern bestritten. Die Frage, wann eine Behandlung mit dem lebensverlängernden Standardmedikament Azidothymidin (AZT) beginnen sollte, ist zum heißen Eisen geworden. Auslöser der Debatte war eine großangelegte Untersuchung, die den Verdacht nahelegte, daß zu viele teure Pillen an Infizierte abgegeben werden, die davon keinen echten Nutzen haben.
Seit der Veröffentlichung der Concorde-Studie auf dem Berliner Aids-Kongreß Anfang Juni streiten sich Ärzte und Betroffene, Statistiker, Pharmakonzerne und Gesundheitsreformer über die Deutung der vorliegenden Daten. In der Fachzeitschrift „New England Journal of Medicine“ wurde nun das Resultat einer australisch-europäischen Forschungsarbeit präsentiert, die im Gegensatz zur Concorde-Studie eine möglichst frühzeitige Behandlung für alle Infizierten ratsam erscheinen läßt.
Würde es sich bei AZT um ein billiges Arzneimittel ohne große Nebenwirkungen handeln, wäre der Fall klar: Ärzte und Patienten müßten sich nicht den Kopf zerbrechen, das Ausfüllen der Rezepte wäre reine Routine. Leider ist jedoch das Gegenteil der Fall. Etwa jeder Zehnte leidet so stark unter Übelkeit und andern Nebenwirkungen von AZT, daß die Therapie abgebrochen werden muß. Die jährlichen Behandlungskosten gehen außerdem in die Zehntausende.
Unbestritten ist die Wirksamkeit der Arznei. Der erste große Versuch mit Aids-Patienten im fortgeschrittenen Stadium der Krankheit wurde in den USA schon nach sieben Monaten abgebrochen, weil AZT die Lebenserwartung gegenüber einem Scheinmedikament deutlich verlängerte. Alle Probanden erhielten daraufhin die Substanz, die im März 1987 von der zuständigen Behörde, der Food and Drug Administration (FDA) offiziell zugelassen wurde.
Nur wenige Monate später ging man die Frage an, ob die Patienten davon profitieren, wenn mit der Therapie früher begonnen wird. Früh heißt dabei: Die Infizierten haben noch relativ große Mengen an bestimmten Immunzellen, den CD4-Helferzellen. Bis heute haben die Mediziner keinen besseren Gradmesser für den Verlauf der Krankheit finden können als die Zahl dieser Zellen in jedem millionstel Liter Blut. Normal sind über 1000, im Endstadium der Krankheit oft weniger als 100.
Vorläufige Daten überzeugten die FDA davon, AZT für alle Patienten mit CD4-Zahlen unter 500 zuzulassen. Fast alle Ärzte befolgten denn auch die „500erRegel“. Mit einem Schlag hatte sich die Zahl der HIV-Infizierten, denen das teure Medikament verschrieben wurde, fast verzehnfacht.
Nach Erscheinen der Concorde-Studie änderte die FDA ihre Empfehlung und empfahl den Ärzten, „nach individuellen Kriterien“ zu entscheiden. Ob dieser Ratschlag nun nochmals geändert wird, ist zweifelhaft, denn bei näherer Betrachtung sind die jüngsten Studien gar nicht so widersprüchlich, wie AZT-Hersteller Wellcome glauben machen will: Nach einer Laufzeit von 55 Wochen wurden bei beiden Untersuchungen Zwischenanalysen vorgenommen, deren Ergebnisse weitgehend übereinstimmen, erklärte Frank-Detlef Goebel von der Universitäts-Poliklinik München.
Bei Patienten, die AZT vom Beginn der Untersuchung an einnahmen, kam es eindeutig seltener zu „klinischen Erscheinungen“ als bei denjenigen, denen zuerst ein Scheinmedikament verabreicht wurde. „Des Rätsels Lösung liegt darin, daß die Concorde-Leute den Mut hatten, ihre Studie trotz dieser Datenlage weiterzuführen“ so Goebel, der ebenfalls an der neuen Untersuchung (EACG 020) beteiligt war.
Wäre der Unterschied zwischen den beiden Patientengruppen immer weiter angewachsen, wie viele es befürchteten, so würde man heute wohl mit Fingern auf die verantwortlichen Wissenschaftler zeigen. Stattdessen verflüchtigten sich die Vorteile wieder, die bei der frühzeitigen Einnahme von AZT beobachtet wurden.
Professor Ian Weller von der Middlesex School of Medicine in London, der für die Concorde-Studie verantwortlich zeichnet, verweist auf die unterschiedlichen „Endpunkte“ in beiden Untersuchungen: Weil die Concorde-Studie länger lief und mehr Teilnehmer hatte als alle anderen Studien, erkrankten und verstarben über 300 Patienten an Aids. Dabei machte es keinen Unterschied, ob man AZT schon verabreichte, bevor sich bei den Patienten erste Symptome von Aids zeigten, oder erst zu einem späteren Zeitpunkt eingriff.
„In der australisch-europäischen Untersuchung gab es wegen der relativ kurzen Dauer keinen einzigen Toten zu beklagen, die Statistik mußte sich hier auf weichere Daten stützen“, erklärt Weller. Das Fortschreiten der Krankheit mußte zum Beispiel an der Zahl der CD4-Zellen gemessen werden oder daran, ob Mundsor als eine relativ harmlose Begleiterkrankung registriert wurde oder nicht. Derartige Diagnosen sind aber nicht immer eindeutig und auch Goebel räumt ein, „daß es Probleme gab, klinische Ereignisse sauber zu definieren“, obwohl bei EACG 020 eine separate Arbeitsgruppe mit dieser Aufgabe betraut wurde.
„EACG 020 zeigt, daß es für einen begrenzten Zeitraum sinnvoll sein kann, Patienten mit 500 bis 750 CD4-Zellen zu behandeln, auch wenn sie noch keine Symptome zeigen“, bilanziert Goedel. Andererseits könne man aus der Concorde-Studie lernen, daß es wenig Sinn mache, Patienten mit Helferzellzahlen unter 500 drei Jahre lang AZT zu geben.
Für Nick Partridge, Chef von Großbritanniens größter Aids-Stiftung, ist auch die neue Untersuchung kein Grund zum Feiern. „Die Studie EACG 020 bestätigt zwar erneut den Nutzen von AZT, aber von einem Medikament, welches die Infizierten 20 oder 30 Jahre gesund hält, sind wir noch sehr weit entfernt.“
(Originalversion eines Artikels, der in gekürzter Form in der Süddeutschen Zeitung am 5. August 1993 erschienen ist)